Im Blickpunkt: Die Umsetzung der EU-Kartellschadensersatzrichtlinie in Deutschland

Von Francis Bellen und Tilman Siebert

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Mit der vom Bundestag kürzlich beschlossenen 9. GWB-Novelle sollen die Neuerungen der Richtlinie 2014/104/EU zum Kartellschadensersatz (RL) in das deutsche Wettbewerbsrecht umgesetzt werden. Sie wird noch in dieser Legislaturperiode in Kraft treten, die Regelungen zum Kartellschadensersatz dabei sogar rückwirkend zum 27.12.2016. Die neuen Regeln machen die private Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen deutlich klägerfreundlicher. Für Kartellgeschädigte wird es also in Zukunft voraussichtlich einfacher, ihre Ansprüche erfolgreich gerichtlich zu verfolgen. Allerdings bringen die Neuerungen zum Teil wesentliche Veränderungen mit neuen Problemen und Fragen.

Welche Neuerungen sind vorgesehen?

Die 9. GWB-Novelle bringt für den Kartellschadensersatz sowohl materiell als auch prozessual einige Neuregelungen mit sich.

Wie bisher sieht § 33a Abs. 1 GWB einen vollständigen Schadensersatz sowie eine Verzinsung vor. Ersatzfähig sind neben dem sogenannten Preisaufschlagsschaden der entgangene Gewinn und Schäden aufgrund eines kartellbedingt gestiegenen Preisniveaus (sogenannte Umbrella-Effekte). Anders als bislang muss der Kläger den Schadenseintritt aber nicht mehr vollumfänglich beweisen. Gemäß § 33a Abs. 2 Satz 1 GWB-neu wird zu seinen Gunsten widerleglich vermutet, dass ein Kartell einen Schaden verursacht. Der Anspruchsteller muss nur noch beweisen, dass und in welchem Umfang er Geschäftsbeziehungen zu dem Kartellbeteiligten unterhalten hat. Der Beklagte kann die Vermutung aber widerlegen. Die Vermutung soll sich nicht auf die Höhe des Schadens beziehen, die das Gericht aber nach § 287 ZPO schätzen kann (§ 33a Abs. 3 GWB-neu).

§ 33c GWB-neu inkorporiert den Einwand der Schadensweitergabe (sogenannte Passing-on-Defence) aus Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie RL. Indirekte Abnehmer können Schäden nur erlitten haben, wenn sie von den direkten Abnehmern weitergereicht wurden. § 33c Abs. 2 GWB-neu sieht hier eine Weiterreichungsvermutung zugunsten des mittelbaren Abnehmers vor, nicht aber zugunsten des Schädigers. Die Vermutung kann zwar nach § 33c Abs. 3 GWB-neu widerlegt werden, indem der in Anspruch genommene Kartellant Tatsachen glaubhaft macht, die eine Schadensabwälzung auf die mittelbaren Abnehmer ausschließen. Gleichwohl besteht die Gefahr einer möglichen doppelten Haftung. Hinsichtlich der Höhe der Weiterreichung ist § 287 ZPO entsprechend anwendbar (§ 33c Abs. 5 GWB-neu), so dass die Gerichte die Höhe des Passing-on schätzen dürfen. Die Kommission wird dazu gemäß Art. 16 RL entsprechende Leitlinien als Orientierungshilfe erlassen.

§ 33d Abs. 1 GWB-neu verweist auf §§ 830, 840 BGB und stellt nochmals die bereits geltende Rechtslage klar, wonach Kartellbeteiligte als Gesamtschuldner haften. Im Innenverhältnis sollen sie die Anteile gemäß § 33d Abs. 2 GWB-neu in erster Linie nach dem Maß der Schadensverursachung tragen, auf ein etwaiges Verschulden soll es erst in zweiter Linie ankommen.

Erhebliche Belastung für vergleichsunwillige Kartellanten

Neue Anreize schafft die Novelle durch Vorschriften zur einvernehmlichen Streitbeilegung, die die Häufigkeit von Vergleichen erhöhen dürften. So soll sich der Anspruch des sich vergleichenden Geschädigten um den Anteil am Schaden verringern, der auf den sich vergleichenden Rechtsverletzer entfällt (§ 33f GWB-neu). Der verbleibende Anspruch des Geschädigten kann dann nur noch gegenüber nicht am Vergleich beteiligten Rechtsverletzern geltend gemacht werden. Umgekehrt werden nicht am Vergleich beteiligte Rechtsverletzer von dem sich vergleichenden Rechtsverletzer keinen Ausgleich für den verbleibenden Anspruch mehr verlangen können. Die Neuregelung führt also zu einer erheblichen Belastung der sich nicht vergleichenden Kartellanten.

Besonders relevant ist § 33g GWB-neu zur Akteneinsicht und Offenlegung von Beweismitteln. Für Verfahren vor deutschen Gerichten, die relativ restriktiven Offenlegungsregeln unterliegen, könnten die neuen Vorschriften für Kläger zu Beweiserleichterungen führen. Informationsasymmetrien bringen hier bisher Beweisschwierigkeiten mit sich, da Beweismittel zur Zuwiderhandlung, Schadensverursachung und Schadenshöhe häufig nur den Beklagten und den Kartellbehörden vorliegen. Zudem stehen der Offenlegung solcher Informationen regelmäßig übergeordnete Interessen, etwa der effektive Schutz des Kronzeugenprogramms, entgegen. Die GWB-Novelle bestimmt demgegenüber, dass Gerichte auf Antrag des Klägers nicht nur befugt sind, die Offenlegung von konkret bezeichneten Beweismitteln anzuordnen. Vielmehr sind Beweismittel in Zukunft bereits dann offenzulegen, wenn sie so genau bezeichnet sind, wie dies auf Grundlage der mit zumutbarem Aufwand zugänglichen Tatsachen möglich ist. Allerdings bestehen dabei einige Einschränkungen. Offenlegungsanträge des Klägers unterliegen einer gerichtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die Offenlegung von Kronzeugenerklärungen soll generell ausgeschlossen sein, und für den Fall, dass diese geschützten Unterlagen durch Akteneinsicht in die Hände einer Partei fallen, gilt ein dem deutschen Zivilprozessrecht bislang unbekanntes absolutes Beweisverwertungsverbot. Im Ergebnis bleibt abzuwarten, ob diese Vorschriften die Beweislage der Kläger in der Praxis spürbar verbessern, zumal sie von einer Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe mit weitem Interpretationsspielraum geprägt sind. Die Regelungen zur Akteneinsicht und Offenlegung von Beweismitteln bleiben jedenfalls deutlich hinter der Pre-Trial Discovery des US-amerikanischen Rechts oder der Disclosure des angelsächsischen Rechtskreises zurück. In Teilen der Literatur wird bezweifelt, ob deutsche Gerichte bei der Anwendung der Vorschrift über die bereits bislang aus § 242 BGB materiell und über §§ 142, 428 ZPO prozessual durchsetzbaren Vorlagepflichten wesentlich hinausgehen.

In diesem Umfang dem deutschen Recht bislang unbekannt ist auch der nun in § 33g GWB-neu enthaltene Anspruch, nach dem Beklagte die Offenlegung von Beweismitteln vom Kläger oder Dritten verlangen können, die für ihre Verteidigung erforderlich sind. So können sie ihre Beweisnot hinsichtlich der Geschäftsbeziehungen ihrer direkten Abnehmer kompensieren. Die prozessualen Voraussetzungen der Auskunftsansprüche nach § 33g GWB-neu werden in den §§ 89b bis 89e GWB-neu geregelt.

Klägerfreundliche Neuregelung

§ 33h GWB enthält Änderungen, durch die das deutsche Verjährungsrecht künftig klägerfreundlicher wird. Er verlängert die Regelverjährung von bisher drei auf fünf Jahre. Die Verjährungsfrist beginnt dabei nicht, bevor der Kartellverstoß beendet wurde und der Kläger von den anspruchsbegründenden Tatsachen Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen müssen. Gegenüber dem bisherigen deutschen Recht ergibt sich eine Verschärfung dadurch, dass der Kläger nunmehr auch Kenntnis darüber haben muss, dass ein Verhalten ein Verstoß im Sinne des § 33 Abs. 1 GWB-neu ist. Die Bestimmung, wann Geschädigte ausreichende Kenntnis haben, und des genauen Verjährungsbeginns bleiben schwierig. Die Regelung zur Verjährungshemmung in § 33h Abs. 6 GWB ist fast identisch mit dem derzeitigen Recht, setzt aber Art. 10 Abs. 3 RL um, indem sie die bisherige Frist von sechs Monaten auf ein Jahr verlängert.

Offene Fragen

Durch die Novellierung wird nicht jedes praxisrelevante Problem einer Lösung zugeführt, zum Teil stellen sich sogar neue Fragen.

So wurde auf die ausdrückliche Übernahme des europäischen Unternehmensbegriffs ins deutsche Kartellschadensersatzrecht verzichtet. Dies betrifft insbesondere die Schadensersatzhaftung von Muttergesellschaften für Kartellverstöße ihrer Konzerntöchter. Der deutsche Gesetzgeber überlässt die Klarstellung einer möglichen Haftungszurechnung der Rechtsprechung.

Anders als beispielsweise in den Niederlanden und Ungarn, wo mit der Umsetzung der RL Sammelklagen möglich werden, wird der deutsche Gesetzgeber dieses Rechtsinstrument (zunächst) nicht einführen. Allerdings hat der Bundesrat die Bundesregierung in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf zur zeitnahen Vorlage eines Gesetzentwurfs zur Einführung sogenannter Musterfeststellungsklagen aufgefordert, so dass dieses Thema in den kommenden Jahren aktuell bleiben wird.

Ungeklärt bleibt weiterhin die Frage der Aktivlegitimation unterkapitalisierter Klagevehikel. Die Definition des Begriffs Schadensersatzklage in Art. 2 Nr. 4 RL erfasst zwar auch die Klagen solcher Personen, die in die Rechte und Pflichten des mutmaßlich Geschädigten eingetreten sind, etwa indem sie den Anspruch erworben haben. Ob die Geltendmachung der erworbenen Ansprüche an besondere Voraussetzungen geknüpft ist, bleibt aber letztlich den Regelungen des nationalen Rechts vorbehalten. Für Klagen vor deutschen Gerichten ist dabei das Urteil des OLG Düsseldorf zum Zementkartell [OLG Düsseldorf, Urteil vom 18.02.2015 − VI-U (Kart) 3/14] von Bedeutung. Hier waren Forderungsabtretungen zur gebündelten Geltendmachung durch ein Klagevehikel für sittenwidrig erachtet worden, weil das Klagevehikel im Fall seines Unterliegens nicht über ausreichende finanzielle Ressourcen zur Erstattung der Prozesskosten der Beklagten verfügte.

Auch für die lange Zeit offene Frage der internationalen Zuständigkeit nationaler Gerichte bei europaweiten Kartellen findet sich keine Neuregelung. Diesbezüglich hat aber die Rechtsprechung in jüngerer Vergangenheit für Klarheit gesorgt. Eine Vorlagefrage des LG Dortmund [LG Dortmund, Beschluss vom 29.04.2013 – 13 O (Kart) 23/09] hat der EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren klägerfreundlich dahingehend beantwortet, dass Geschädigte eines Kartells die Möglichkeit haben, ihre Schadensersatzklagen gegen verschiedene Beklagte vor dem Gericht eines Mitgliedstaats zu bündeln, in dem mindestens ein Beklagter (der sogenannte Ankerbeklagte) seinen Sitz hat. Nach Ansicht des EuGH soll dies auch dann gelten, wenn der Ankerbeklagte aus dem Verfahren ausscheidet (EuGH, Urteil vom 21.05.2015 – C-352/13).

Zwei Haftungsprivilegierungen werfen Fragen auf. Nach § 33d Abs. 3 GWB-neu haften kleinere und mittlere Unternehmen mit einem Marktanteil von unter 5%, die nicht Anführer oder Wiederholungstäter sind, nur gegenüber ihren eigenen Abnehmern, wenn anderenfalls ihre Existenz gefährdet wäre. Auch Kronzeugen, denen eine Geldbuße vollständig erlassen wurde, haften nach § 33e GWB-neu grundsätzlich nur gegenüber eigenen mittelbaren und unmittelbaren Abnehmern. Gegenüber anderen Geschädigten haftet der Kronzeuge nur, wenn sie von den anderen Kartellanten keinen Schadensersatz verlangen können, z.B. wegen Zahlungsunfähigkeit.

Hinsichtlich der sich im Zusammenhang mit § 33d Abs. 1 und Abs. 2 GWB-neu stellenden und bereits bislang ungeklärten Frage, nach welchen Kriterien die relative Verantwortlichkeit der einzelnen Kartellanten beim Gesamtschuldnerausgleich bestimmt werden soll, vermeidet der Gesetzgeber eine klare Regelung und überlässt auch diese Frage einer Klärung durch die Rechtsprechung.

Fazit

Durch die Umsetzung der RL durch die 9. GWB-Novelle werden die Möglichkeiten von Klägern zur Geltendmachung von Kartellschadensersatz gestärkt, wodurch Deutschland als Justizstandort attraktiver wird. Der Gesetzgeber hat jedoch seine Umsetzungsspielräume nicht ausgereizt und sich weitgehend an das von der RL verlangte Mindestmaß gehalten. Auf diese Weise hat er eine Klarstellung zu einigen umstrittenen Fragen vermieden, die somit bis zu einer endgültigen Klärung durch die Rechtsprechung weiterhin Konfliktpotential bieten

fbellen@reedsmith.com

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