Im Blickpunkt: Die Entscheidung des BVerfG zum Tarifeinheitsgesetz

Von Claudia Kuhn und Dr. Marc Spielberger

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Mit dem mit Spannung erwarteten Urteil vom 11.07.2017 erklärte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) die Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes zur Überraschung einiger für größtenteils verfassungskonform.

Das BVerfG hat das Gesetz allerdings im Hinblick auf § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG, die Auflösung der Tarifkollision zugunsten des Tarifvertrags der mitgliederstärksten Gewerkschaft, aus verfassungsrechtlicher Sicht beanstandet.

Dem Gesetzgeber wird auferlegt, Abhilfe zu schaffen und entsprechende Neuregelungen zu treffen. Bis zu einer Neuregelung – so das Gericht ausdrücklich – darf ein Tarifvertrag im Fall einer Kollision nur verdrängt werden, wenn plausibel dargelegt ist, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Belange der Angehörigen der Minderheitsgewerkschaft ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat. Mit dieser Maßgabe bleibt das Gesetz weiterhin anwendbar. Die Neuregelung ist vom Gesetzgeber bis zum 31.12.2018 zu treffen.

Dieser Artikel soll einen knappen Überblick über den Inhalt und die Idee des Tarifeinheitsgesetzes geben und sich sodann mit der Entscheidung des BVerfG und deren Folgen beschäftigen.

Inhalt und Zweck des Tarifeinheitsgesetzes

Das Tarifeinheitsgesetz von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, das seit knapp zwei Jahren gilt, soll den Fall einer Kollision mehrerer Tarifverträge innerhalb eines Betriebs für dieselbe Beschäftigungsgruppe regeln. Bei mehreren konkurrierenden Gewerkschaften sollen lediglich die Tarifbestimmungen gelten, die mit der mitgliederstärkeren Gewerkschaft geschlossen wurden. Die Arbeitsgerichte entscheiden im Beschlussverfahren darüber, welchem Tarifvertrag der Vorrang gegeben wird, § 2a Nr. 6, 99 ArbGG.

Wird ein Tarifvertrag verdrängt, so hat die unterlegene mitgliederschwächere Gewerkschaft sodann einen Anspruch auf Nachzeichnung. Ziel ist es, dadurch einer Zersplitterung der Gewerkschaften innerhalb eines Betriebs und Dauerarbeitskämpfen entgegenzuwirken. Es sollen eine Zusammenarbeit der Gewerkschaften erreicht und somit Machtkämpfe unterbunden und eine einheitliche, kooperative Abstimmung angestrebt werden.

Mehrere Berufsgruppengewerkschaften, Branchengewerkschaften, ein Spitzenverband sowie ein Gewerkschaftsmitglied haben sich mit der hier besprochenen Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Tarifeinheitsgesetz gewendet und vornehmlich eine Verletzung der Koalitionsfreiheit gerügt.

Zusammenfassung und Folgen der Entscheidung

Eingriff in das Grundrecht der Koalitionsfreiheit Unbenommen ist, dass das Tarifeinheitsgesetz in das Freiheitsrecht der Koalitionsfreiheit aus Artikel 9 GG eingreift. Sowohl die drohende Verdrängung des eigenen Tarifvertrags als auch die gerichtliche Feststellung (durch das obengenannte Beschlussverfahren), welche Gewerkschaft in dem Unternehmen die Minderheitsgewerkschaft darstellt, ist jedenfalls dazu geeignet, eine Gewerkschaft bei der Mitgliederwerbung und bei der Mobilisierung der Mitglieder auch für Arbeitskampfmaßnahmen zu schwächen und Entscheidungen zur tarifpolitischen Ausrichtung und Strategie zu beeinflussen.

Rechtfertigung

Der Eingriff in das Recht der Koalitionsfreiheit ist jedoch aus Sicht der Verfassungsrichter zum großen Teil gerechtfertigt. Der Gesetzgeber verfolgt das legitime Ziel, die strukturellen Voraussetzungen von Tarifverhandlungen, das Verhältnis der Gewerkschaften untereinander, zu regeln.

In der Gesamtabwägung stellen die Karlsruher Richter klar, dass die mit dem Tarifeinheitsgesetz einhergehenden Belastungen jedenfalls in ihrer Gesamtheit unter Einhaltung einer restriktiven Auslegung der Norm zumutbar sind. Kurz zusammengefasst, begründet das Gericht die Erwägungen folgendermaßen:

Die Kollisionsregelung ist dispositiv. Die betroffenen Tarifvertragsparteien können sich darauf einigen, dass die Kollisionsnorm des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG nicht zur Anwendung kommt.

Darüber hinaus ist die Verdrängungswirkung der Norm nach ihrer gesetzlichen Ausgestaltung mehrfach beschränkt. Eine Verdrängung findet nur dann statt, wenn eine Überschneidung mit dem Tarifvertrag der Mehrheitsgesellschaft kumulativ in zeitlicher, räumlicher, betrieblich-fachlicher und persönlicher Hinsicht vorliegt. In allen anderen Fällen wirken die Tarifverträge für die sie betreffenden Arbeitnehmer unberührt weiter.

Ferner werden die Gerichte angehalten, Tarifverträge im Kollisionsfall so auszulegen, dass durch die Verdrängung beeinträchtigte Grundrechtspositionen weitestgehend geschont werden.

Wesentlich ist, dass durch die Verdrängung des Tarifvertrags der Minderheitsgewerkschaft bestimmte tarifvertraglich garantierte Lösungen nicht verdrängt werden dürfen. Insbesondere betrifft dies längerfristige Leistungen, auf die sich Beschäftigte normalerweise in ihrer Lebensplanung verlassen, wie beispielsweise Regelungen zur betrieblichen Altersvorsorge, Arbeitsplatzgarantie und Lebensarbeitszeit. Der Gesetzgeber hat zum Schutz dieser Regelungen zwar keine ausdrückliche Regelung gefunden, die Gerichte sind jedoch gehalten, unbillige Härten durch eine Verdrängung dieser Regelungen zu vermeiden.

Parität bleibt erhalten

Von besonderer Bedeutung ist für die Gewerkschaften die Ungewissheit des Arbeitgebers über die tatsächliche Durchsetzungskraft einer Gewerkschaft aufgrund von deren Mitgliederstärke. Dadurch wird die Parität zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeberseite sichergestellt. Durch das neu geregelte Beschlussverfahren des § 2a Nr. 6, 99 ArbGG besteht ein nicht unbedeutendes Risiko, dass es zur Offenlegung der Mitgliederstärke der Gewerkschaften kommt. Den Fachgerichten wird zum Ausgleich dieses Risikos jedoch auferlegt, ihre prozessrechtlichen Möglichkeiten dazu zu nutzen, dies zu vermeiden. Das Gericht führt weiter aus, dass dies insgesamt zumutbar sei, auch wenn es nicht in allen Fällen gelingen sollte.

Unvereinbar mit höherrangigem Verfassungsrecht ist das Gesetz jedoch insoweit, als gesetzliche Vorkehrungen dagegen fehlen, dass die Belange der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen bei der Verdrängung bestehender Tarifverträge einseitig vernachlässigt werden. Dem BVerfG fehlt es in dieser Hinsicht an einem Schutz von Spartengesellschaften. Das Gericht stellt klar, dass der Regelung durch eine restriktive Auslegung der Verdrängungsregelung, deren verfassungsrechtliche Einbindung und das Recht der unterlegenen Tarifvertragspartei ihre Schärfe genommen werden muss. Dem Gesetzgeber wird auferlegt, an dieser Stelle bis Ende 2018 nachzubessern.

Bis zu einer Neuregelung darf ein Tarifvertrag im Fall einer Kollision im Betrieb nur dann verdrängt werden, wenn plausibel dargelegt wird, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Belange der Angehörigen der Minderheitsgewerkschaft ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat. Vor allem dürfen gewisse, den kleineren Gewerkschaften garantierte Leistungen grundsätzlich nicht verdrängt werden. Hiervon erfasst sind „längerfristig bedeutsame Leistungen“ der Lebensplanung wie beispielsweise Leistungen zur Alterssicherung oder zur Arbeitsplatzgarantie. Allgemein soll die Verdrängung möglichst gering ausgestaltet sein, und so dürfen unterlegene Tarifverträge in den Bereichen erhalten bleiben, in welchen keine Kollision vorliegt.

Was solche Feststellungen angeht, sind die Tarifparteien jedoch bis zu der Neuregelung an die Arbeitsgerichte verwiesen. Insbesondere sollen diese daher in den Kollisionsfällen den Schutz der unterlegenen Gewerkschaft sicherstellen und möglichst geringe und schonende Verdrängung garantieren.

Weitere bedeutende Aussagen des Gerichts

Durch die öffentliche Diskussion entstand häufig der Eindruck, dass durch das Tarifeinheitsgesetz das Streikrecht der Gewerkschaften beschränkt werde. Das BVerfG hat in der hier besprochenen Entscheidung jedoch ausdrücklich festgestellt, dass das in Artikel 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich geschützte Recht des Arbeitskampfs als Mittel zum Erlangen eines Tarifabschlusses durch das Tarifeinheitsgesetz nicht beeinträchtigt werden solle. Selbst wenn schon absehbar sei, dass ein Tarifvertrag nie zur Geltung gelangen werde und auf jeden Fall verdrängt werden würde, bliebe das Streikrecht unangetastet. Der Streik könne nämlich noch erforderlich sein. Der Abschluss müsse unter Umständen auch im Fall der Verdrängung erstreikt werden können, um einen Tarifabschluss herbeizuführen, der ein Nachzeichnungsrecht der Minderheitsgewerkschaften erst begründet. In der Folge bleibt also die Verhältnismäßigkeit des Streiks danach zu bewerten, ob der Streik um den verdrängten Tarifabschluss erforderlich und geeignet und verhältnismäßig im engeren Sinne war, um eine Nachzeichnung zu erreichen, die den Interessen der streikenden Minderheitsgesellschaft entsprach.

Darüber hinaus gibt das BVerfG den Arbeitsgerichten auf, die aus dem Streikrecht der kleineren Gewerkschaften folgenden Haftungsrisiken durch verfassungskonforme Auslegung zu vermeiden.

Abweichende Meinung der Richter Paulus und Baer

Beachtenswert ist, dass sich jedoch zwei Richter des Ersten Senats ausdrücklich gegen das Tarifeinheitsgesetz ausgesprochen und ein Sondervotum eingelegt haben. Den Richtern Paulus und Baer gehen die Maßnahmen der Verdrängung eines unterlegenen Tarifvertrags zu weit. Nach ihrer Ansicht hätte § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG für nichtig erklärt werden müssen. Das Ziel der Sicherung der Tarifautonomie ist nach Auffassung der Richter Paulus und Baer zwar legitim, aber das Mittel der Verdrängung eines abgeschlossenen Tarifvertrags zu scharf. Komplexe Fragen müsse der Gesetzgeber entscheiden und nicht der Senat. Außerdem seien die weiteren im Urteil identifizierten verfassungsrechtlichen Defizite des Tarifeinheitsgesetzes entweder durch eine zwingende verfassungskonforme Auslegung oder durch eine Neuregelung und damit vom Gesetzgeber zu lösen. Sie monieren auch die Entscheidung, das Gesetz fortgelten zu lassen.

Fazit

Das Streikrecht und damit die arbeitskampfrechtliche Waffe der Gewerkschaften bleiben uneingeschränkt. Auch Streiks, bei denen von vornherein klar ist, dass der so erkämpfte Tarifvertrag in Anwendung des § 4a TVG später nicht zur Anwendung kommt, bleiben rechtmäßig, und die Gewerkschaften sollen für Streikschäden keinesfalls haften. Das heißt, das Gesetz verhindert keine Streiks konkurrierender Gewerkschaften. Wer also zum Beispiel als Kunde der Deutschen Bahn gehofft hatte, in Zukunft von Streiks der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) verschont zu werden, wird vermutlich enttäuscht. Auf die Arbeitskämpfe der Lufthansa findet § 4a TVG ohnehin keine Anwendung, weil jede der dort vertretenen Gewerkschaften für unterschiedliche Beschäftigungsgruppen kämpft. Der Anwendungsbereich des Gesetzes ist daher für die aktuelle Praxis sehr beschränkt.

Der Gesetzgeber muss in der nächsten Legislaturperiode nachbessern, um die Interessen derer sicherzustellen, deren Tarifvertrag verdrängt wird. Bis dahin muss die Mehrheitsgewerkschaft nachweisbar die Belange der Angehörigen der Minderheitsgewerkschaft ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigen. Was das in Praxis konkret bedeutet, bleibt offen.

Das BVerfG hat erkannt, dass die Offenlegungspflicht im Hinblick auf die Mitgliederstärke für die Gewerkschaften sehr belastend sein und Paritätsrelevanz haben kann. Die Fachgerichte sollen daher die Klärung prozessual möglichst verhindern, obwohl die Frage, wer Mehrheits- und wer Minderheitsgewerkschaft ist, für die Anwendung von § 4a TVG entscheidend ist. Das ist nicht ganz widerspruchsfrei und entspringt dem Motto: „Wasche mich, aber mache mich nicht nass.“ Dieses Problem hat das BVerfG zu umschiffen versucht, sich letztlich dann aber dafür entschieden, dass diese Offenlegung zumutbar sei.

Die Praxis wird zeigen, wie sich § 4a TVG in seinem ohnehin sehr engen praktischen Anwendungsbereich befriedend auf konkurrierende Gewerkschaften auswirkt und ob die vom Gesetz gewollte Abstimmung und Kooperation gelingen.

ckuhn@reedsmith.com

mspielberger@reedsmith.com

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