Im Blickpunkt: Die (Un-)Endlichkeit des Pflichtverteidigermandats

Von Dr. Susana Campos Nave

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Kaum ein Verfahren greift so stark in die Rechte der Betroffenen ein wie das Strafverfahren. Wo es um Haftbefehle und Observationen geht, um Beschlagnahme und Vermögensabschöpfung, sind grundrechtliche Garantien unmittelbar betroffen. Nirgends ist die Gefahr so groß, einen Beschuldigten zum bloßen „Objekt“ des Verfahrens zu machen. Der Rechtsstaat hat dafür Vorsorge getroffen und das Institut des sogenannten Pflichtverteidigers geschaffen. Er soll an der Seite des Beschuldigten stehen und seine Rechte wahrnehmen.  Die gesetzliche Institution der Pflichtverteidigung ist jüngst aufgrund aktueller Großverfahren in den medialen Blickpunkt gerückt. Auch in immer mehr Wirtschaftsstrafverfahren werden Pflichtverteidiger beigeordnet, um den Verlauf und Fortgang des Prozesses zu sichern. Ein Anlass, die Rolle des Pflichtverteidigers und die heikle Frage seiner Entpflichtung zu beleuchten.

Gesetzliche Regelung

Die gesetzlichen Vorgaben, wann ein Pflichtverteidiger zu ernennen ist, ergeben sich aus § 140 StPO. Diese Vorschrift ist eine Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips. Mit dem Institut der notwendigen Verteidigung, der sogenannten Pflichtverteidigung, und mit der Bestellung eines Verteidigers ohne Rücksicht auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Angeklagten, sichert der Gesetzgeber das Interesse, das der Rechtsstaat an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren und nicht zuletzt an einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten hat.

Demnach ist die Mitwirkung eines Verteidigers in allen im Katalog des § 140 Abs. 1 StPO aufgeführten Fällen zwingend notwendig. Darunter fällt unter anderem die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht oder dem Landgericht (§ 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO). Eine Pflichtverteidigerbestellung ist auch dann zwingend, wenn dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird (§ 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO), das Verfahren zu einem Berufsverbot führen kann (§ 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO) oder gegen den Beschuldigten Untersuchungshaft oder eine einstweilige Verfügung vollstreckt wird (§ 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO).

In anderen, nicht in § 140 Abs. 1 StPO genannten, Fällen, ist ein Pflichtverteidiger dann zu bestellen, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.

Vertrauensverhältnis zwischen Pflichtverteidiger und Beschuldigtem

Kern eines jeden Mandatsverhältnisses ist das Vertrauensverhältnis zwischen Beschuldigtem und Verteidiger. Der Verteidiger ist oft die einzige Kontaktperson eines strafrechtlich Beschuldigten oder gar Inhaftierten. Er nimmt vielfach nicht nur die formale Verfahrens- und Prozessführung wahr, sondern leistet dem Beschuldigten auch Hilfe bei Alltagsfragen, wie etwa, wenn dessen Arbeitsverhältnis aufgrund von Untersuchungshaft gekündigt wird. Der Verteidiger ist auch Bindeglied zwischen staatlichen Organen wie etwa der Staatsanwaltschaft und dem Gericht. Er ist dabei im Rahmen der berufsrechtlichen und strafrechtlichen Grenzen allein den Interessen seines Mandanten verpflichtet.

Entpflichtung

Die Entpflichtung kann nur in gesetzlich geregelten Fällen oder aus wichtigem Grund erfolgen.

Das Gesetz sieht in den §§ 138a, 138b, 140 Abs. 3 und 143 StPO verschiedene Fälle vor, in denen die Entlassung des Pflichtverteidigers geregelt ist. Daneben kann eine Entpflichtung aus wichtigem Grund erfolgen. Was unter einem wichtigen Grund zu verstehen ist, ist eine Frage des Einzelfalls. Hierunter können auch Krankheit, dauernde Verhinderung, mangelnde Vertrautheit des Rechtsanwalts mit dem Strafrecht und Fälle der Mehrfachvertretung gemäß § 146 StPO fallen.

Darüber hinaus kommt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als wichtiger Grund für den Widerruf der Pflichtverteidigerstellung jeder Umstand in Frage, der den Zweck der Pflichtverteidigung, dem Beschuldigten einen geeigneten Beistand zu sichern und den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, ernsthaft gefährdet. Nicht ausreichend ist demnach jedoch ein unzweckmäßiges, prozessordnungswidriges oder sonst den Verfahrensablauf störendes Verhalten des Pflichtverteidigers. Maßgeblich ist, dass Umstände vorliegen und vorgetragen werden, aus denen sich ergibt, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Pflichtverteidiger und Beschuldigtem endgültig und nachhaltig erschüttert und deshalb zu befürchten ist, dass die Verteidigung objektiv nicht (mehr) sachgerecht geführt werden kann.

Störung des Vertrauensverhältnisses

In welchen Fällen eine Störung des Vertrauensverhältnisses vorliegt, ist eine Frage des Einzelfalls. Nicht aus­reichend ist dabei jede einfache Erschütterung des ­Vertrauensverhältnisses. Auch allein die Behauptung, dass eine Störung im Vertrauensverhältnis vorliege, genügt nicht als wichtiger Grund zur Entpflichtung, zumal es sonst der Beschuldigte in der Hand hätte, den weiteren Fortgang des Verfahrens zu verzögern und zu blockieren.

Unstrittig ist das Vertrauensverhältnis nachhaltig erschüttert, wenn die Weiterführung der Pflichtverteidigung für den Verteidiger unzumutbar ist. Hierzu lassen sich verschiedene Fallgruppen bilden:

Grobes Fehlverhalten des Beschuldigten:  Der Beschuldigte hindert den Verteidiger wiederholt daran, Beweisanträge in der Verhandlung zu stellen oder eigene Ermittlungen außerhalb des Verfahrens vorzunehmen. Oder es ist keinerlei Einigung auf eine gemeinsame Verteidigungsstrategie möglich. Grundsätzlich gilt, dass die Hürden sehr hoch sein müssen, da der Beschuldigte es sonst in der Hand hätte, die Entlassung seines Verteidigers zu erzwingen.

Differenzen bezüglich der Verteidigungsstrategie:  Wesentlich für die Verteidigungsstrategie ist die Frage, ob der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Tat einräumt. Differenzen hinsichtlich dieser Frage zwischen Beschuldigtem und Pflichtverteidiger können eine Entpflichtung gebieten. Die Weigerung des Verteidigers, bestimmte, ihm völlig aussichtslos erscheinende Prozesshandlungen vorzunehmen, genügt jedoch nicht zur Entpflichtung, zumal der Anwalt unabhängiger Beistand und nicht Vertreter des Angeklagten ist.

Ehrverletzung und Rufschädigung zum Nachteil des Verteidigers:  Die vom Verteidiger beantragte Entpflichtung ist begründet, wenn der Angeklagte den Verteidiger in der Hauptverhandlung des Parteiverrats bezichtigt und der Verteidiger darauf Strafanzeige gegen den Angeklagten erstattet. Zu beachten ist jedoch, dass wenn die Straftat alleiniges Mittel ist, um die Entlassung des Pflichtverteidigers zu erzwingen, sie keinen Entlassungsgrund darstellen kann.

Tätliche Angriffe des Mandanten auf den Verteidiger:  In der früheren höchstrichterlichen Rechtsprechung wurde die Entpflichtung abgelehnt mit der Begründung, dass es in solchen Fällen der Beschuldigte in der Hand hätte, durch sein Handeln die Entpflichtung zu erzwingen. Nach neuerer Auffassung wird eine gegenteilige Auffassung vertreten mit dem Argument der Stellung des Verteidigers als Organ der Rechtspflege, dem persönlich und mit Blick auf die Würde seines Berufs nicht zuzumuten sei, in solchen Fällen weiter tätig zu sein.

Beschränkungen der Pflichtverteidigerentlassung

Gerichte werden bei der Prüfung einer Entpflichtung von prozessökonomischen Gründen geleitet. Der Vorsitzende Richter hat daher eine Interessenabwägung zwischen dem Verlust des Vertrauens zwischen Mandant und Verteidiger sowie den Gesichtspunkten der Prozessökonomie vorzunehmen. Zu beachten sind insoweit die Kosten des Prozesses und das sogenannte Beschleunigungsgebot in Strafsachen, welches verlangt, dass das Strafverfahren mit größtmöglicher Beschleunigung durchzuführen ist. Die Pflichtverteidigung dient nicht nur der Wahrung der Rechte des Beschuldigten, sondern auch dem ordnungsgemäßen Gang der Hauptverhandlung und damit einem rechtsstaatlich ordnungsgemäßen Verfahren. Im Einzelfall kann es deshalb dazu kommen, dass der Verteidiger nicht entpflichtet wird, um den Prozess zeitlich nicht enorm zu verlängern.

Die Professionalität des Verteidigers, die sich auch in seiner Distanziertheit und Sachlichkeit zeigt, ist eine zwingende charakterliche Voraussetzung, um die Rechte des Beschuldigten trotz einer Störung des Vertrauensverhältnisses wahrzunehmen. Der Rechtsstaat gebietet es eben auch, dass bei Konflikten innerhalb eines Mandatsverhältnisses ein gewisses Maß an Divergenz und Konflikten ertragen wird – von beiden Seiten.

susana.camposnave@roedl.com

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