Kartellschadensersatz: Grundsatz der Effektivität des EU-Rechts schreibt Zivilrecht der Mitgliedstaaten um

Von Prof. Dr. Ulrich Schnelle, LL.M.

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Einführung
Der Gerichtshof der Europäischen Union beschäftigte sich in zwei Vorlageverfahren zum Kartellschadensersatz mit dem Verhältnis des EU-Kartellrechts (Art. 101 und Art. 102 AEUV) zum Zivilrecht der Mitgliedstaaten.
In der Rechtssache C-724/17, „Skanska Industrial Solutions u.a.“, hatte eine finnische Stadt drei Rechtsnachfolgerinnen von finnischen Gesellschaften verklagt, die ihrerseits an einem Kartell auf dem Asphaltmarkt in Finnland beteiligt waren. Die jeweiligen Erwerberinnen hatten die am Kartell beteiligten Gesellschaften übernommen und in einem freiwilligen Liquidationsverfahren jeweils deren Geschäftstätigkeit auf sich oder auf andere Gesellschaften ihrer Unternehmensgruppe übertragen. Wie die Zivil- und Gesellschaftsrechtsordnungen der anderen Mitgliedstaaten geht auch das finnische Recht davon aus, dass eine Haftung auf Schadensersatz aus Kartellen nur für die Gesellschaft besteht, die tatsächlich am Kartell beteiligt war. Im wirtschaftlichen Ergebnis hätte somit der klagenden finnischen Stadt niemand mehr gehaftet.
In der zweiten Rechtssache C-637/17, „Cogeco Communications Inc./Sport TV Portugal SA u.a.“, ging es um Schadensersatz wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung. Nach portugiesischem Zivilrecht wären sämtliche Ansprüche der Klägerin verjährt, da das portugiesische Recht durchgängig eine dreijährige Verjährung vorsieht, die mit Kenntnis der Rechtsverletzung beginnt. Nach portugiesischem Recht kommt es für den Beginn der Verjährung nicht darauf an, ob der Geschädigte den möglichen Anspruchsgegner kennt. Das portugiesische Recht sieht auch keine Hemmung der Verjährung durch Ermittlungen der jeweiligen Kartellbehörden vor. Im Ergebnis können nach portugiesischem Recht Schadensersatzansprüche verjährt sein, bevor das Ermittlungsverfahren der jeweiligen zuständigen Behörde überhaupt abgeschlossen ist und der mögliche Geschädigte Kenntnis vom möglichen Schädiger hat.

Urteile des Gerichtshofs
In seinem Urteil vom 14.03.2019 in Sachen „Skanska Industrial Solutions u.a.“ entschied der Gerichtshof, dass der Unternehmensbegriff, den Art. 101 AEUV in der Auslegung durch die europäischen Gerichte gefunden habe, nicht nur im Bußgeldverfahren, sondern auch im Schadensersatzrecht gelte. Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass Art. 101 Abs. 1 und Art. 102 AEUV in den Beziehungen zwischen Einzelnen unmittelbare Wirkungen erzeuge und unmittelbar in deren Person Rechte entstehen lasse, die die nationalen Gerichte zu wahren haben. Nach ständiger Rechtsprechung wären die volle Wirksamkeit des Art. 101 AEUV und insbesondere die praktische Wirksamkeit des Kartellverbots beeinträchtigt, wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte, der ihm durch einen Vertrag, der den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann, oder durch ein entsprechendes Verhalten entstanden ist. Maßgebliche Voraussetzung ist nach der Rechtsprechung, dass zwischen dem Schaden und einem nach Art. 101 AEUV verbotenen Kartell oder Verhalten ein ursächlicher Zusammenhang besteht.
Zum Verhältnis zwischen diesen Anforderungen des Unionsrechts und dem Recht der Mitgliedstaaten führt der Gerichtshof aus: In Ermangelung einer einschlägigen Unionsregelung ist die Regelung der Modalitäten für die Ausübung des Rechts, Ersatz des sich aus einem nach ­ Art. 101 AEUV verbotenen Kartell oder Verhalten ergebenden Schadens zu verlangen, zwar Aufgabe der innerstaatlichen Rechtsordnung des einzelnen Mitgliedstaats, dabei sind jedoch der Äquivalenz- und der Effektivitätsgrundsatz zu beachten. Die Bestimmung des Ersatzpflichtigen des durch einen Verstoß durch Art. 101 AEUV entstandenen Schadens wird unmittelbar durch das Unionsrecht geregelt. Art. 101 AEUV knüpft an den Begriff des Unternehmens an. Der Begriff „Unternehmen“ im Sinne von Art. 101 AEUV erfasst jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einrichtung unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung. Unter diesem Begriff ist eine wirtschaftliche Einheit zu verstehen, selbst wenn diese wirtschaftliche Einheit rechtlich aus mehreren natürlichen oder juristischen Personen besteht. Bei der Umstrukturierung eines Unternehmens wie bei den finnischen Kartellbeteiligten, bei der die Einheit, die gegen das Wettbewerbsrecht der Union verstoßen hat, nicht mehr besteht, hat eine organisatorische Änderung einer Einheit, die einen solchen Verstoß begangen hat, nicht zwingend zur Folge, dass ein neues, von der Haftung für wettbewerbswidrige Handlungen seines Vorgängers befreites Unternehmen entsteht, sofern diese und die neue Einheit wirtschaftlich gesehen identisch sind.
Auf den Einwand im Verfahren, die erwähnte Rechtsprechung sei im Zusammenhang mit der Verhängung von Geldbußen nach der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 entwickelt worden, erwiderte der Gerichtshof, dass das Recht eines jeden, Schadensersatz wegen Kartellverstößen zu verlangen, die volle Wirksamkeit dieses Artikels garantiere. Denn das Kartellschadensersatzrecht erhöhe die Durchsetzungskraft der Wettbewerbsregeln der Union und sei geeignet, Unternehmen von Verhaltensweisen abzuhalten, die den Wettbewerb beschränken oder verfälschen können. Die praktische Wirksamkeit dieser Vorschriften sei beeinträchtigt, wenn es Unternehmen möglich sei, ihrer Verantwortlichkeit einfach dadurch zu entgehen, dass ihre Identität durch Umstrukturierungen, Übertragungen oder sonstige Änderungen rechtlicher oder organisatorischer Art geändert wird.
Im Fall „Cogeco Communications Inc./Sport TV Portugal SA u.a.“ urteilte der Gerichtshof mit Urteil vom 28.03.2019, dass aufgrund der zeitlichen Abläufe mit der Erhebung der Klage im portugiesischen Ausgangsverfahren die Richtlinie 2014/104 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union keine Anwendung finde. Der Gerichtshof billigt insofern den Mitgliedstaaten das Recht zu, auf der Grundlage von Übergangsbestimmungen der Richtlinie in Art. 21 und 22 das Inkrafttreten der Richtlinie im nationalen Recht jeweils selbst zu bestimmen.
Der Gerichtshof schließt an seine Ausführungen im Urteil „Skanska Industrial Solutions u.a.“ an. Die Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz seien dahingehend auszulegen, dass Art. 102 AEUV einer nationalen Regelung entgegenstehe, die zum einen vorsehe, dass die Verjährungsfrist für Schadensersatzklagen auf drei Jahre festgelegt ist und zu dem Zeitpunkt beginnt, zu dem der Geschädigte von seinem Anspruch auf Schadensersatz Kenntnis erlangt, auch wenn die für den Verstoß verantwortliche Person und das genaue Ausmaß der Schädigung nicht bekannt sind, und zum anderen keine Möglichkeit bestehe, diese Frist während des bei der nationalen Wettbewerbsbehörde anhängigen Verfahrens zu hemmen oder zu unterbrechen.
Schadensersatzansprüche dürfen nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden. Damit der Geschädigte eine Schadensersatzklage erheben kann, ist es unerlässlich, dass er weiß, wer für den Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht verantwortlich ist. Die Angemessenheit einer Verjährungsfrist, gemessen an den Erfordernissen des Effektivitätsgrundsatzes, ist nach Auffassung des Gerichtshofs sowohl für Schadensersatzklagen, die unabhängig von der bestandskräftigen Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde, als auch für solche, die im Anschluss an eine solche Entscheidung erhoben werden, von besonderer Bedeutung. Die Regelungen des portugiesischen Verjährungsrechts würden aber im Ergebnis dazu führen, dass ein Schadensersatzanspruch verjährt sein kann, bevor das Ermittlungsverfahren der Wettbewerbsbehörde überhaupt abgeschlossen ist.

Folgerungen aus den beiden Urteilen
Die Urteile der Zweiten Kammer des Gerichtshofs stellen eine folgerichtige Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Kartellschadensersatzrecht dar. Inwieweit der Unternehmensbegriff des Art. 101 AEUV auch auf zivilrechtliche Schadensersatzansprüche anwendbar ist, war und ist in Deutschland umstritten. Der Gesetzgeber der 9. GWB-Novelle hatte diese Frage der Klärung durch die Rechtsprechung überlassen. Die Frage ist nunmehr jedenfalls für die Rechtsnachfolge beantwortet. In zukünftigen Verfahren ist die Anwendung des Unternehmensbegriffs des Art. 101 AEUV auf weitere Sachverhalte zu klären. Dies gilt insbesondere für die Konzernhaftung, also für die Haftung der Muttergesellschaft für Kartellverstöße einer Tochter. Die Auswirkungen der Rechtsprechung des Gerichtshofs in den beiden Urteilen sind gegenwärtig noch gar nicht absehbar, dürfen aber in keinem Fall unterschätzt werden. Die bisher in der deutschen Rechtsprechung vertretene These von der Unabhängigkeit der einzelnen Konzerngesellschaften und dem Grundsatz, dass nur der eigentliche Teilnehmer am Kartell belangt werden kann, kann in dieser Absolutheit nicht mehr aufrechterhalten werden.
Aus dem Urteil vom 28.03.2019 lässt sich entnehmen, dass auch in Kartellschadensersatzfällen, in denen die Richtlinie beziehungsweise ihre Umsetzung zeitlich nicht anwendbar sind, die strengen Anforderungen des europäischen Wettbewerbsrechts zu beachten sind. Maßstab hierfür ist die Richtlinie selbst. Der Gerichtshof hat zwar die Anwendbarkeit der Richtlinie als solcher auf den Ausgangsfall verneint, doch im Ergebnis genau die Regeln der Richtlinie, nämlich eine längere Frist als drei Jahre (fünf Jahre) für die kenntnisabhängige Verjährung und vor allen Dingen die Hemmung der Verjährung durch ein behördliches Ermittlungsverfahren, als Maßstab für die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem EU-Wettbewerbsrecht herangezogen.
Einige deutsche Gerichte neigen dazu, die Bestimmungen der Richtlinie als Zäsur anzusehen und für die Zeit vor dem 27.12.2016 nicht einmal die Grundgedanken der Richtlinie anzuwenden. Diese Tendenz dürfte nach dem Urteil des Gerichtshofs nicht mehr beibehalten werden können. Dies hat wesentliche Folgen etwa für die Klageberechtigung indirekt Geschädigter. Die Richtlinie stellt für die typischen Fälle Vermutungen zugunsten der Kläger auf, die nach dem Effektivitätsgrundsatz schon vor dem genannten Zeitpunkt zur Anwendung gebracht werden müssen.
Die beiden hier besprochenen klägerfreundlichen Urteile werden für mehrere Rechtsfragen zu erheblichen Nachbesserungen in der Rechtsprechung der deutschen Gerichte führen.

us@haver-mailaender.de

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