Im Blickpunkt: Die Sache Torresi
Von Markus Hartung
Es gibt unverzichtbare Grundfreiheiten, welche die Europäische Union nicht nur kennzeichnen, sondern ausmachen. Dazu gehören die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit: Europäer sollen an jedem Ort in Europa leben und arbeiten können, auch wenn sie von ihrer Nationalität her natürlich keine Europäer sind, sondern Italiener oder Franzosen, Deutsche oder Rumänen. Diese europäischen Freiheiten sind geradezu identitätsstiftend für ein geeintes Europa. Denn wirklich geeint sind Nationen erst dann, wenn deren Bürger die anderen europäischen Mitgliedstaaten auch als ihre Heimat, wenigstens aber als vertrautes und erlaubtes Terrain für die Verwirklichung ihrer beruflichen oder privaten Lebensziele ansehen. So weit, so gut.
Freizügigkeit vs. nationale Eigenheiten
So wichtig die europäische Dienstleistungs- und die Niederlassungsfreiheit sind, so wenig sind die europäischen Mitgliedstaaten wirklich darauf vorbereitet. Jeder Mitgliedstaat hat nach wie vor seine sehr eigenen Vorstellungen davon, was innerhalb der nationalen Grenzen erlaubt ist und was nicht. Der europäische Gedanke und die nationalen Vorstellungen passen also nur selten zusammen. Wenn grenzüberschreitendes Wirtschaften stattfindet, kommt es daher immer mal wieder zum Clash, Stichwort Cassis de Dijon. Die französische (Rohmilch-)Käseindustrie kann davon mehrere Lieder singen, ebenso die deutschen Bierbrauer. Auch deutsche Handwerker reagierten beunruhigt, als die Frage aufkam ob europäische, aber nichtdeutsche Handwerker in Deutschland tätig werden dürften. Für die Rechtsbranche war bisher die englische LLP das klassische Beispiel für den juristischen Culture Clash: Denn obwohl diese Rechtsform mit keiner deutschen Rechtsform wirklich vollständig zu vergleichen ist, darf sie in Deutschland verwendet werden, auch von Gesellschaften, die bis auf eine Briefkastenadresse nichts mit England zu tun haben. Die LLP ist gerade deshalb in Deutschland so erfolgreich, weil deutsches und englisches Recht nicht zusammenpassen und eine persönliche Haftung scheinbar gänzlich ausscheidet – Details würden zu weit führen, das Thema ist in dieser Zeitschrift schon ausführlich beschrieben worden (siehe etwa Hartung, Mit beschränkter Berufshaftung – Die PartG mbB: wirksames Gegenmittel zur LLP? in: Deutscher AnwaltSpiegel, Ausgabe 05/2012 vom 07.03 2012, S. 16 f.).
Freizügigkeit und Anwälte
Derzeit hat der Fall Torresi den Konflikt zwischen nationalen Vorstellungen und einem europäischen freizügigen Umfeld wieder aufgebracht, und der EuGH hat ohne den Schimmer eines Zweifels die europäische Fahne hochgehalten und nationalstaatliche Eigenheiten dahinter zurückstehen lassen. Auch für Anwälte gelten grundsätzlich die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit, besonders geregelt u.a. in der Anwaltsrichtlinie 98/5/EG (Niederlassungsrichtlinie). Diese Richtlinie ermöglicht es, dass sich Rechtsanwälte auch in anderen Mitgliedstaaten als Anwalt niederlassen dürfen, unter Verwendung der Berufsbezeichnung des Mitgliedstaats, in dem sie die Berufsqualifikation erworben haben. Ein in Italien zugelassener Rechtsanwalt kann also z.B. in Deutschland als Rechtsanwalt praktizieren, darf aber nicht den Titel „Rechtsanwalt“ führen, sondern muss seinen italienischen Titel Avvocato verwenden. Ein österreichischer Rechtsanwalt darf in Deutschland nur dann den auch in Österreich üblichen Titel Rechtsanwalt führen, wenn er durch einen Zusatz klarstellt, dass er österreichischer Rechtsanwalt ist. Weiterhin sind vor Aufnahme der Tätigkeit einige Formalia einzuhalten, man muss sich auch registrieren lassen, aber insgesamt ermöglicht die genannte Richtlinie die anwaltliche Tätigkeit in anderen Ländern als dem Herkunftsstaat und will dieses Tätigwerden im europäischen Raum auch erleichtern.
Der konkrete Fall
Über diese Prinzipien müsste man nicht groß streiten. Dennoch musste sich der EuGH mit folgendem Fall befassen:
Die Herren Angelo Alberto Torresi und Pierfrancesco Torresi, zwei italienische Staatsbürger, hatten zunächst in Italien ein Jurastudium absolviert. Sie wollten Anwälte werden. Das ist in Italien nach dem Studium noch nicht möglich, sondern erfordert weitere Ausbildungsanstrengungen, üblicherweise eine zweijährige Trainingsphase in einer Kanzlei oder den Besuch einer Anwaltsschule, und ein anspruchsvolles Staatsexamen, bevor man als Anwalt zugelassen wird. Die Herren Torresi entschlossen sich, eine Zulassung als Rechtsanwalt in Spanien, auf der Insel Teneriffa, anzustreben, um dann wieder nach Italien zurückzukehren. Dazu mussten sie in Spanien ebenfalls Rechtswissenschaft studieren, aber dort ist es gleich nach Abschluss des Studiums ohne weiteres möglich, eine Anwaltszulassung zu erhalten.
Nachdem sie im Dezember 2011 die spanische Zulassung als Abogado erhalten hatten, zogen sie umgehend wieder zurück nach Italien und beantragten dort im März 2012 die Aufnahme in die Sonderabteilung des Anwaltsregisters der örtlichen Rechtsanwaltskammer. In diesem Sonderregister werden alle nichtitalienischen Anwälte aus anderen Mitgliedstaaten der EU registriert. Die Eintragung wurde nicht fristgerecht vorgenommen, die Herren Torresi beschwerten sich daraufhin beim Consiglio Nazionale Forense (Ausschuss der gesamtstaatlichen Rechtsanwaltskammer).
Dieser Ausschuss war indes der Auffassung, es handele sich um einen flagranten Missbrauch der Anwaltsrichtlinie 98/5/EG, so dass ein Tätigwerden als Anwalt auch mit spanischer Berufsbezeichnung Abogado nicht erlaubt sei: Es sei nicht Sinn der Richtlinie, die Umgehung der nationalstaatlichen Regelungen zur Erlangung des Anwaltstitels zu ermöglichen. Wer in Italien Jura studiere, dann aber das italienische Staatsexamen vermeide, indem er in Spanien Jura studiere und dort die Anwaltszulassung erhalte, mit der er wieder nach Italien komme, um dort als Anwalt zu praktizieren, missbrauche die europäischen Regeln der Freizügigkeit.
Hinzu kam ein weiteres Argument von italienischer Seite, als Frontalangriff auf die Wirksamkeit der genannten Richtlinie: In Italien sei die Staatsprüfung als Zulassungserfordernis in der Verfassung verankert und gehöre zu den grundlegenden Prinzipien des Verbraucher- bzw. Mandantenschutzes und zu einer geordneten Rechtspflege. Eine Richtlinie, welche die Umgehung solcher Verfassungsprinzipien ermögliche, sei wegen Missachtung des Gebots der Achtung der nationalen Identität (Verstoß gegen Art. 4 Abs. 2 AEUV) unwirksam.
Die Entscheidung des EuGH
Die Sache wurde dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt, der mit Urteil vom 17.07.2014 entschied (Rechtssachen C-58/13 und C-59/13, die Entscheidung finden Sie HIER). Die Herren Torresi waren auf ganzer Linie erfolgreich. Der EuGH prüfte zunächst sehr ausführlich einige Verfahrensfragen und kam im Hinblick auf den Vorwurf des Missbrauchs zu dem Schluss, dass das vorliegende Ergebnis doch gerade das sei, was mit der Richtlinie 98/5/EG erreicht werden sollte. Natürlich dürften europäische Regeln nicht missbraucht werden, aber richtlinienkonformes Verhalten könne grundsätzlich keinen Missbrauch darstellen, auch wenn das Ergebnis aus nationalstaatlicher Sicht unbefriedigend sei (Rn. 49). Das gelte selbst dann, wenn günstigere Zulassungsvoraussetzungen eines Mitgliedstaates, hier Spaniens, genutzt würden, um über diesen Weg zu einer Zulassung zu kommen (Rn. 50 f.). Denn aus Erwägungsgrund 6 der Richtlinie ergebe sich ja gerade, dass unterschiedliche nationale Zulässigkeitsvoraussetzungen beiseitegeräumt werden sollten.
Im Hinblick auf das italienische Argument, die Richtlinie verstoße gegen Art. 4 Abs. 2 AEUV und sei deshalb insgesamt unwirksam, hatten die Vertreter der italienischen Regierung in der mündlichen Verhandlung der Einschätzung des EuGH zugestimmt, dass der Bestand der Richtlinie „jedenfalls nicht geeignet ist, die grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen oder die grundlegenden Funktionen des Aufnahmemitgliedstaats im Sinne von Art. 4 Abs. 2 EUV zu berühren“ (Rn. 58). Damit fiel der Hauptangriff gegen die Richtlinie in sich zusammen.
Bewertung der Entscheidung
Man kann sich fragen, warum hier überhaupt gestritten werden musste. Die Missbrauchsrechtsprechung des EuGH ist allgemein bekannt, und der Generalstaatsanwalt (die Schlussanträge des Generalstaatsanwalts Nils Wahl finden sich HIER) hatte seine Schlussanträge mit den Worten eingeleitet, die Sache sei doch eigentlich ganz eindeutig (Rn. 3). Daher ist das Urteil an den entscheidenden Passagen apodiktisch kurz. Allerdings muss man EuGH-Entscheidungen bekanntlich immer mit den Schlussanträgen der Generalstaatsanwälte lesen, auf welche die EuGH-Entscheidung an den entscheidenden Passagen auch verweist.
Der Streit hat – vielleicht – folgenden Hintergrund: In Italien scheint es nicht unüblich zu sein, dass man die strengen italienischen Zulassungsvoraussetzungen als Anwalt vermeidet, indem man eine Zulassung in einem anderen Mitgliedstaat, insbesondere in Spanien, erwirbt. Im Verfahren wurde berichtet, dass von den ca. 3.800 Berufsträgern mit ausländischen Zulassungen gut 90% die italienische Staatsangehörigkeit hätten. Waren die Herren Torresi der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte?
Die Reaktionen auf das Urteil waren daher bislang eher verhalten sachlich. Die BRAK bezeichnete das Urteil als „konsequent“. Das ist es auch. So müsste man auch in Deutschland reagieren, wenn ein deutscher Jura-Bachelor (LL.B.) in Teneriffa studierte und als Abogado nach Deutschland zurückkehrte, um hier anwaltlich tätig zu sein, ohne zwei Staatsexamen, und dann nach drei Jahren gemäß § 11 Abs. 1 EuRAG den Antrag auf Zulassung zur Rechtsanwaltschaft stellte, mit der Befugnis, den Titel Rechtsanwalt zu tragen.
Aber davon abgesehen: Aus europäischer Sicht ist die Entscheidung völlig richtig. Nur so lassen sich die Grundfreiheiten erreichen. Einen europäischen Binnenmarkt würde es niemals geben, wenn Maßstab immer die nationalen Regeln der Mitgliedstaaten wären. Sinnvoll wäre es allerdings, die völlig unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Regelungen u.a. zum Anwaltsberuf zu harmonisieren. Davon würde auch Deutschland profitieren, denn unser System, in dem praktisch jeder Anwalt werden kann, ohne diesen Beruf jemals gelernt zu haben und ohne irgendeiner sanktionierten Fortbildungspflicht zu unterliegen, ist, höflich gesagt, nicht mehr zeitgemäß.
Nachtrag
Die Herren Torresi sind in der Kanzlei „Studio Legale Torresi & Associati “ tätig. Die Kanzlei hat ihren Sitz in Macerata, südlich von Ancona, und unterhält Büros in Santa Cruz auf Teneriffa, in Barcelona und in João da Madeira. Der Gründer und Seniorpartner dieser Kanzlei ist Carlo Torresi, der auch Prozessbevollmächtigter der Herren Torresi vor dem EuGH war. Angelo Alberto Torresi tritt immer noch als Abogado auf (in der Abkürzung „ABG“). Pierfrancesco Torresi hingegen ist nach den Angaben auf der Kanzleihomepage seit 2012 als Avvocato zugelassen. Zumindest für seine anwaltliche Tätigkeit hätte er die Entscheidung des EuGH sicher nicht mehr benötigt. Aber wann hat man schon Gelegenheit, ein solches Verfahren zu führen?
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