EuGH: Strengere Anforderungen an Auskunftsverlangen der EU-Kommission
Von Dr. Ulrich Schnelle, LL.M., und Elisabeth S. Wyrembek, LL.M. (London)

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Einleitung

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seinen Urteilen vom 10.03.2016 (Rs. C-247/14 P, C-248/14P, C-267/14 P und C-268/14 P) die von der Europäischen Kommission an mehrere Zementhersteller gerichteten Auskunftsverlangen für nichtig erklärt. Der Gerichtshof hat dabei festgestellt, dass die Beschlüsse der Kommission nicht hinreichend begründet seien.

Nachdem der Gerichtshof die Kommission bereits unlängst mit seinem Urteil vom 18.06.2015 (Rs. C-583/13 – „Deutsche Bahn“) zu Durchsuchungsbefugnissen bei „Dawn Raids“ in die Schranken ihrer Ermittlungsbefugnisse verwiesen hatte, bestätigt er mit seinen jüngsten Urteilen in Sachen „Zement“ die Verschärfung der Begründungserfordernisse an Ermittlungsmaßnahmen der Kommission in Kartellverfahren.

Sachverhalt

Den Urteilen des EuGH voraus ging ein von der Kommission im Dezember 2010 eingeleitetes Kartellverfahren („Sache COMP/39520 – Zement und verwandte Produkte“), das jedoch im Juli 2015 ergebnislos eingestellt wurde. Die Kommission hatte aufgrund ihres ursprünglichen Tatverdachts im November 2008 und September 2009 Nachprüfungen in den Räumlichkeiten mehrerer Unternehmen aus der Zementbranche durchgeführt. Bei den mutmaßlichen Zuwiderhandlungen handelte es sich nach Auffassung der Kommission insbesondere um die Beschränkung des Handelsverkehrs im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) einschließlich der Beschränkung von Einfuhren in den EWR aus Ländern außerhalb des EWR, um Marktaufteilung, Preisabsprachen und andere verbundene wettbewerbsrechtliche Praktiken in den Märkten für Zement und verwandte Produkte.

Mit Beschlüssen vom 30.03.2011 verlangte die Kommission anschließend in einem Verfahren nach Art. 18 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 von den betreffenden Unternehmen Auskunft zu den Verdachtsmomenten für Zuwiderhandlungen in Form eines Fragebogens. Gegen diese Auskunftsbeschlüsse erhoben mehrere betroffene Unternehmen, darunter unter anderem die deutschen Unternehmen HeidelbergCement und Schwenk Zement sowie die italienischen Unternehmen Buzzi Unicem und Italmobiliare, Nichtigkeitsklage beim Europäischen Gericht (EuG). In ihren Klagebegründungen trugen sie insbesondere vor, dass die Beschlüsse die mutmaßlichen Zuwiderhandlungen nicht hinreichend erläuterten. Zudem lege die Kommission den betroffenen Unternehmen angesichts der Vielzahl der verlangten Auskünfte und der Vorgabe eines besonders aufwendigen Antwortformats eine unverhältnismäßige Arbeitsbelastung auf.

Nachdem das EuG keinen der vorgebrachten Klagegründe für begründet erachtet und die Klagen abgewiesen hatte, legten die betroffenen Unternehmen Rechtsmittel beim EuGH ein. Der EuGH hat mit seinen Urteilen vom 10.03.2016 (Rs. C-247/14 P, C-248/14P, C-267/14 P und C-268/14 P) die Urteile des EuG aufgehoben und die Auskunftsbeschlüsse der Kommission für nichtig erklärt.

Rechtlicher Rahmen

In Art. 337 AEUV primärrechtlich verankert und in der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 weiter konkretisiert, sieht das Unionsrecht umfangreiche kartellrechtliche Ermittlungsbefugnisse der Kommission vor, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendig sind, um verbotene Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen aufzudecken [vgl. 23. Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 1/2003].

So erteilt Art. 18 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 der Kommission die Befugnis, „durch einfaches Auskunftsverlangen oder durch Entscheidung von Unternehmen und Unternehmensvereinigungen [zu] verlangen, dass sie alle erforderlichen Auskünfte erteilen.“ Verpflichtet die Kommission zu einem Auskunftsverlangen durch Beschluss, muss dieser die in Art. 18 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 aufgestellten Anforderungen erfüllen. Danach hat die Kommission insbesondere die Rechtsgrundlage, den Zweck des Auskunftsverlangens und die geforderten Auskünfte anzugeben sowie eine Frist für deren Erteilung festzusetzen. Die Entscheidung der Kommission hat ferner „einen Hinweis auf die in Artikel 23 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 vorgesehenen Sanktionen zu enthalten und weist entweder auf die in Artikel 24 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 vorgesehenen Sanktionen hin oder erlegt diese auf.“ Zudem hat die Entscheidung auf das Recht hinzuweisen, vor dem Gerichtshof gegen die Entscheidung Klage zu erheben [vgl. Art. 18 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003].

Entscheidung des EuGH

  • Auskunftsverlangen der Kommission nicht hinreichend begründet
    Nach Auffassung des Gerichtshofs sind die Beschlüsse, mit denen die Kommission die betroffenen Unternehmen um Auskunft ersucht hatte, entgegen der Ansicht des EuG nicht rechtlich hinreichend begründet und deshalb für nichtig zu erklären. Nach gefestigter Rechtsprechung müsse die in Art. 296 AEUV vorgeschriebene Begründung von Rechtsakten der Unionsorgane der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein und die Überlegungen des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen könnten und das zuständige Gericht seine Kontrolle durchführen könne. Zu beurteilen sei das Begründungserfordernis dabei anhand aller Umstände des Einzelfalls und nicht nur anhand des Wortlauts des Beschlusses, sondern auch anhand seines Kontextes sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet. Insbesondere definiere Art. 18 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 die wesentlichen Bestandteile eines auf ein Auskunftsverlangen gerichteten Beschlusses, wonach neben der Rechtsgrundlage und der Frist für die Auskunftserteilung insbesondere der Zweck des Auskunftsverlangens anzugeben sei. Diese spezielle Begründungspflicht stelle nicht nur deshalb ein grundlegendes Erfordernis dar, weil die Berechtigung des Auskunftsverlangens aufgezeigt werden soll, sondern auch deshalb, weil die betroffenen Unternehmen in die Lage versetzt werden sollten, den Umfang ihrer Mitwirkungspflicht zu erkennen und zugleich ihre Verteidigungsrechte zu wahren. Die Pflicht der Kommission, den Zweck des Auskunftsverlangens anzugeben, bedeute, dass die Kommission den Gegenstand ihrer Untersuchung und somit die mutmaßliche Zuwiderhandlung in ihrem Auskunftsverlangen konkret benennen müsse.
  • Rechtfertigende Verdachtsmomente für Zuwiderhandlungen nicht hinreichend bestimmt
    Der Gerichtshof kommt zum Ergebnis, dass die Begründungen für die streitigen Auskunftsverlangen hinter den rechtlichen Begründungserfordernissen zurückbleiben. Zum einen kämen die den Erlass des streitigen Beschlusses rechtfertigenden Verdachtsmomente für Zuwiderhandlungen nicht klar und eindeutig zum Ausdruck. Zum anderen ließe sich nicht feststellen, ob die verlangten Auskünfte für die Untersuchung notwendig seien.
    Gemessen an dem außerordentlichen Umfang des Fragebogens und der damit eingeforderten äußerst breit gestreuten und detaillierten Informationen, seien die Begründungen der Beschlüsse äußerst knapp, vage und allgemein gehalten. Dieses Begründungsdefizit ließe sich auch nicht durch den Kontext der Beschlüsse wettmachen. So seien die von der Untersuchung betroffenen Produkte nicht mit hinreichender Bestimmtheit zu erkennen, und auch die räumliche Erstreckung der mutmaßlichen Zuwiderhandlungen sei mehrdeutig.
    Anhand der Begründungen sei es weder den betreffenden Unternehmen möglich, die Notwendigkeit der angeforderten Auskünfte für die Untersuchung zu prüfen, noch dem Unionsrichter, seine Kontrolle auszuüben.
  • Auskunftsverlangen grundsätzlich typische Voruntersuchungsmaßnahme
    Zwar gesteht der Gerichtshof der Kommission zu, dass es sich bei einem Auskunftsverlangen um eine typischerweise im Rahmen der Voruntersuchung eingesetzte Ermittlungsmaßname handele. Auch habe er im Hinblick auf Nachprüfungsbeschlüsse entschieden, dass aus diesen nicht zwingend eine genaue Abgrenzung des relevanten Marktes, die exakte rechtliche Qualifizierung der mutmaßlichen Zuwiderhandlungen oder der Zeitraum, in dem sie begangen worden sein sollen, hervorgehen müssten, da Nachprüfungen zu Beginn der Untersuchungen stattfänden und damit zu einem Zeitpunkt, zu dem der Kommission noch keine genauen Informationen vorlägen.
  • Äußerst knappe, vage und allgemein gehaltene Begründung im Einzelfall ungenügend
    Nach den Ausführungen des Gerichtshofs kann eine äußerst knappe, vage und allgemein gehaltene sowie in mancher Hinsicht mehrdeutige Begründung jedoch nicht den Begründungserfordernissen des Art. 18 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 genügen, wenn die Kommission zu dem Zeitpunkt, zu dem die streitigen Auskunftsverlangen erlassen wurden, bereits über Informationen verfügte, die es ihr ermöglicht hätten, die Verdachtsmomente für die mutmaßlichen Zuwiderhandlungen der betreffenden Unternehmen mit größerer Bestimmtheit zu formulieren. Dass dies der Kommission jedoch möglich gewesen wäre, sah der Gerichtshof vorliegend als erwiesen an, nachdem mehrere Monate nach dem Beschluss über die Einleitung des Verfahrens und mehr als zwei Jahre nach den ersten Nachprüfungen vergangen waren und die Kommission bereits mehrere Auskunftsverlangen an die betroffenen Unternehmen gerichtet hatte.

Folgerungen für die Praxis

Mit diesen Urteilen nimmt der Gerichtshof die Ermittlungsbefugnisse der Kommission im Kartellverfahren innerhalb kurzer Zeit erneut unter die Lupe und setzt ihnen – diesmal in Bezug auf Auskunftsverlangen – in einer Grundsatzentscheidung unmissverständliche rechtsstaatliche Grenzen, indem er deutliche Anforderungen an die Begründung stellt.

Erst unlängst hatte der Gerichtshof mit seinem Urteil vom 18.06.2015 (Rs. C-583/13 – „Deutsche Bahn“) die Ermittlungsbefugnisse der Kommission in Bezug auf Durchsuchungen bei „Dawn Raids“ als vom Durchsuchungsbeschluss begrenzt festgestellt. Ausforschungsaufträge zu sogenannten „Fishing Expeditions“ hatte er als rechtsstaatswidrig und damit unzulässig erklärt. Danach ist die gezielte Suche nach Zufallsfunden, die nicht vom Durchsuchungsbeschluss erfasst sind, unzulässig. Habe die Kommission hingegen Hinweise, die den Anfangsverdacht einer weiteren Zuwiderhandlung begründeten, sei es ihre Pflicht, den Durchsuchungsbeschluss und dessen Begründung entsprechend zu erweitern.

Mit den jüngsten Entscheidungen des Gerichtshofs in Sachen „Zement“ wird der Beurteilungsmaßstab bei der Begründung von Auskunftsverlangen nun noch stärker verschärft, als dies bei Durchsuchungsbeschlüssen geschehen ist. So sieht der Gerichtshof bei Auskunftsverlangen in einem fortgeschrittenen Ermittlungsstadium auch eine erhöhte Pflicht der Kommission, die ihr vorliegenden Informationen zu nutzen, um Verdachtsmomente für Zuwiderhandlungen der betreffenden Unternehmen mit größerer Bestimmtheit zu formulieren.

Der frische Wind seitens des Gerichtshofs in Sachen Ermittlungsbefugnisse der Kommission in Kartellverfahren ist zu begrüßen. Vor dem Hintergrund ihrer umfangreichen Ermittlungsbefugnisse wird die Kommission in Zukunft angehalten sein, ihre Maßnahmen in ausreichendem Umfang zu begründen, um sie so rechtsstaatlich zu rechtfertigen und den Rechten der Verteidigung der betroffenen Unternehmen gerecht zu werden, nicht zuletzt, um ausufernden Arbeitsaufwand bei den Unternehmen zu vermeiden. Insofern bringen die umfangreichen Ermittlungsbefugnisse der Kommission auch umfangreiche Ermittlungspflichten mit sich.

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