EuGH: Zur Verschwiegenheitspflicht der Finanzaufsicht

Von Peter Scherer, LL.M., und Dr. Johannes Blassl

Beitrag als PDF (Download)

In der Juristerei werden manchmal aus schrecklichen Geschichten interessante Rechtsfragen und aus denen am Ende auch manchmal wichtige Urteile – im Guten wie im Bösen. So auch hier.

Hintergrund

Vor 14 Jahren gab es einen der größten Fälle von Kapitalanlagenbetrug [§ 264a Strafgesetzbuch (StGB)]; die Phoenix Kapitaldienst GmbH (Phoenix) soll etwa 30.000 vor allem deutsche und dänische Privatanleger sowie Großinvestoren mit falschen Versprechen um etwa 600 Millionen Euro „erleichtert“ haben. Was folgte, war die Insolvenz von Phoenix.

Nach Abschluss des Insolvenzverfahrens erhielten die geschädigten Anleger immerhin jeweils die ersten 20.000 Euro von der Entschädigungseinrichtung der Wertpapierhandelsunternehmen (EdW) und von dem darüber hinausgehenden Betrag weitere 36,3% aus der Insolvenzmasse. Dies ist in Anbetracht der gewöhnlichen Insolvenzquoten von 3% bis 4% durchaus beachtlich. Die EdW, damals noch eine recht junge Institution, geriet in einige Schwierigkeiten.

Das EuGH-Urteil vom 19.06.2018 – C-15/16

Aber dann hatte der „Phoenix“-Fall auch noch ganz andere, verwaltungsrechtliche Aspekte, die nunmehr zum EuGH-Urteil vom 19.06.2018 geführt haben.

Vorinstanzen

Einer der zahlreichen geschädigten Anleger von Phoenix, Edwald Baumeister, begehrte Einsicht in Unterlagen, die der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) in diesem Fall vorlagen. Dabei handelte es sich um Sonderprüfberichte, externe Gutachten, interne Stellungnahmen sowie weitere Korrespondenz. Die BaFin verweigerte – entsprechend ihrer bisherigen Verwaltungspraxis – diesen gemäß § 1 Abs. 1 Informationsfreiheitsgesetz (IFG) geltend gemachten Auskunftsanspruch unter Bezugnahme auf die ihr gemäß § 9 Abs. 1 Kreditwesengesetz (KWG) obliegende Verschwiegenheitspflicht, die insbesondere Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse von Kredit- und Finanzdienstleistungsinstituten umfasst.

Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren klagte Baumeister beim zuständigen Verwaltungsgericht Frankfurt am Main (VG Frankfurt) auf Einsichtnahme in die genannten Unterlagen. Jedenfalls für die BaFin überraschend, verpflichtete das VG Frankfurt die BaFin dazu, Einsicht in alle Unterlagen in Sachen Phoenix zu gewähren, solange dadurch keine Geschäftsgeheimnisse Dritter verletzt würden (vgl. VG Frankfurt, Urteil vom 12.03.2008, Az. 7 E 5426/06).

Die BaFin legte gegen die Entscheidung des VG Frankfurt Berufung zum Hessischen Verwaltungsgerichtshof (VGH Hessen) ein. Als der VGH Hessen die Entscheidung des VG Frankfurt weitestgehend bestätigte und zumindest eine einzelfallbezogene Begründung für die Verweigerung des Informationszugangs verlangte (vgl. VGH Hessen, Beschluss vom 28.04.2010, Az. 6 A 1767/08), zog die BaFin per Revision vor das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG).

Aber das BVerwG legte den Sachverhalt dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens vor und setzte daher das Verfahren vor dem BVerwG zunächst aus (vgl. BVerwG, Beschluss vom 04.11.2015, Az. 7 C 4.14).

Das BVerwG war insbesondere der Ansicht, dass § 9 Abs. 1 KWG, der die Verschwiegenheitspflicht der BaFin normiert, gegebenenfalls im Lichte von Art. 54 Abs. 1 der EU-Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (2004/39/EG), MiFiD1, unionrechtskonform erweiternd auszulegen sei (sogenannte teleologische Extension), und zwar dahingehend, dass womöglich sämtliche Informationen, die die BaFin im Zuge ihrer Aufsichtstätigkeit erhält, von vornherein vertraulich seien.

Falls der EuGH aber nicht der Meinung sein sollte, dass es unionsrechtlich geboten sei, alle Informationen, die die Finanzaufsichtsbehörde im Rahmen ihrer Tätigkeit erlange, als vertraulich einzustufen, formulierte das BVerwG weitere Fragen an den EuGH, und zwar: (i) wie bestimmt und abgegrenzt werden soll, welche Informationen als vertraulich oder nicht vertraulich zu klassifizieren sind, (ii) ob es zur Bestimmung einer „vertraulichen“ Information auf den Zeitpunkt ankommt, in dem die Information übermittelt wird, oder aber auf den Zeitpunkt, in dem über die Informationen entschieden wird, und (iii) ob die Vertraulichkeit einer Information mit der Zeit abnimmt.

Die Entscheidung des EuGH

In seiner Stellungnahme zum Vorabentscheidungsersuchen des BVerwG vom 13.12.2017 vertrat der Generalanwalt beim EuGH Yves Bot die Auffassung, dass das von Art. 54 MiFiD1 [nahezu wortgleich: Art. 76 der MiFID2 (2014/65/EU)] geschützte Berufsgeheimnis letztlich alle Informationen umfasse, die der Aufsichtsbehörde entweder von den betroffenen Unternehmen oder Dritten zugänglich gemacht wurden.

Der EuGH selbst sah dies allerdings ganz anders. Das war einigermaßen erstaunlich, da der EuGH doch sonst für gewöhnlich den Schlussanträgen der Generalanwälte folgt.

Keine generelle Vertraulichkeit

Im Einklang mit seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. EuGH-Urteil vom 12.11.2014, Az. C–140/13, Randnummern 26 ff. in Sachen „Altmann“) bekräftigte der EuGH zunächst, dass eine wirksame Beaufsichtigung nach MiFID1 (und jetzt nach MiFID2) voraussetze, dass Aufsichtsbehörden und beaufsichtigte Unternehmen vertrauliche Informationen austauschen können, ohne einen Informationszugang Dritter befürchten zu müssen.

Dies ist sicher richtig, dürfte sich doch die Kommunikation zwischen den beaufsichtigten Unternehmen und der Aufsicht (noch) schwieriger gestalten, wenn die beaufsichtigten Unternehmen nicht darauf vertrauen können, dass die von ihnen mitgeteilten Informationen vertraulich bleiben. Trotzdem seien, so der EuGH, nicht alle in den Akten der BaFin enthaltenen Informationen von vornherein als vertraulich einzustufen.

Bis hierhin handelt es sich allerdings um eine Binsenweisheit, denn selbstverständlich sind die Akten der BaFin, wie auch die sämtlicher anderer Behörden, voll mit Informationen, die öffentlich bekannt und schon deshalb nicht vertraulich sind. Man denke nur an Behörden wie den Verfassungsschutz, der Informationen aus öffentlich zugänglichen Quellen (etwa Zeitungsartikel) in großem Umfang sammelt.

Interessenbeeinträchtigung im konkreten Fall

Folgerichtig führte der EuGH dann weiter aus, dass nur solche Informationen vertraulich seien, die nicht öffentlich zugänglich sind und bei deren Weitergabe zudem die Gefahr einer Interessenbeeinträchtigung besteht. Explizit erwähnte der EuGH weiterhin das Interesse am ordnungsgemäßen Funktionieren des vom Unionsgesetzgeber geschaffenen Systems zur Überwachung der Tätigkeit von Wertpapierfirmen (Funktionsfähigkeit der Finanzaufsicht), das Interesse des beaufsichtigten Unternehmens sowie die Interessen von Dritten.

Inwiefern die Interessen Dritter, der beaufsichtigten Unternehmen oder das Allgemeininteresse an einer wirksamen Finanzaufsicht durch eine Informationsweitergabe beeinträchtigt werden können, soll – nach dem EuGH – anhand von Einzelfallumständen geprüft werden. Jede nicht offenkundige Information sei also nur dann vertraulich, wenn ihre Offenbarung eine konkrete Interessengefährdung des Unternehmens, eines Dritten oder der Funktionsfähigkeit der Finanzaufsicht bedeuten würde.

Vertraulichkeit im Zeitverlauf

Für die Frage, ob eine Information als vertraulich zu klassifizieren ist, kommt es nach dem EuGH auch darauf an, wie lange der Sachverhalt, zu dem Informationen herausverlangt werden, in der Vergangenheit liegt.

Die Aufsichtsbehörde muss nach dem EuGH-Urteil nun im Entscheidungszeitpunkt prüfen, ob weiterhin ein hinreichendes Interesse an der Geheimhaltung besteht. Nach einem Zeitraum von fünf Jahren jedenfalls sollen frühere Geschäftsgeheimnisse typischerweise nicht mehr aktuell und deshalb auch nicht mehr zwangsweise vertraulich sein. Daher müsse die Partei, die sich nach einem Ablauf von fünf Jahren auf die Vertraulichkeit einer Information beruft, darlegen, dass diese Information trotz ihres Alters immer noch dazu geeignet ist, die Interessen des beaufsichtigten Unternehmens, eines Dritten oder der Finanzaufsicht zu verletzen.

Fazit und Ausblick

Nun mag es zwar unter pragmatischen Gesichtspunkten verständlich gewesen sein, einfach alle Informationen, die bei einer Finanzaufsichtsbehörde vorhanden sind, als vertraulich einzustufen, um so etwaige Auskunftsansprüchen schon von vorneherein abzuschmettern. So einfach aber wird es für die BaFin nach diesem EuGH-Urteil nicht mehr sein.

Die Auskunftsansprüche nach dem Informationsfreiheitsgesetz sollen als Instrument zur Verwaltungskon­trolle dienen und auch die Vorbereitung von potentiellen Amtshaftungsansprüchen ermöglichen.

So ist die BaFin regelmäßig zahlreichen Informationsersuchen ausgesetzt und muss nunmehr in jedem Einzelfall vertrauliche Informationen von nicht vertraulichen Informationen abgrenzen, um dem EuGH-Urteil Rechnung zu tragen. Der dadurch entstehende Verwaltungsmehraufwand ist nicht unerheblich, unterscheidet sich aber kaum von dem anderer Behörden, die die Informationsansprüche nach dem Informationsfreiheitsgesetz ebenfalls prüfen und diese nicht allein mit einem pauschalen Verweis auf § 9 Abs. 1 KWG oder andere Vorschriften beantworten können.

Erfreulich ist, dass der EuGH ausdrücklich die Funktionsfähigkeit der Finanzaufsicht als ein eigenständiges Schutzgut anerkennt, das bei einer Prüfung der Interessenbeeinträchtigung mit zu berücksichtigen ist. Damit wird zumindest in Grenzen den Besonderheiten der europäischen Finanzaufsicht Rechnung getragen.

Unerfreulich hingegen ist, dass es am Ende auf Einzelfallbewertungen darüber hinausläuft, ob vertrauliche Informationen vorliegen oder nicht. Das ist unnötig sperrig für die Aufsichtsbehörde, aber damit wird sie leben müssen. Auch ist aufgrund der nun erforderlichen Einzelfallbewertungen von Auskunftsansprüchen mit einem erhöhten Prozessaufkommen zu rechnen, da Antragsteller eine ablehnende Einzelfallentscheidung der BaFin häufig gerichtlich überprüfen lassen werden.

peter.scherer@gsk.de

Johannes.blassl@gsk.de

Aktuelle Beiträge