EuGH: Schutzziel ist die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer – Sonderkonstellation:Arbeitnehmer ohne festen Arbeitsort
Von Philip Herbst

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In einer seiner jüngsten Entscheidungen hat der EuGH zu der Frage Stellung genommen, inwiefern die Reisezeit bei Arbeitnehmern ohne festen oder gewöhnlichen Arbeitsort zum ersten Kunden und vom letzten Kunden als Arbeitszeit zu werten ist. Anlass der Entscheidung war ein Vorabentscheidungsersuchen eines spanischen Gerichts im Rahmen eines Rechtsstreits zweier Unternehmen mit einer Gewerkschaft. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rats vom 04.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 299, S. 9).

Der Sachverhalt

Der Entscheidung des EuGH lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die spanischen Unternehmen, die Tyco Inte­grated Security SL und die Tyco Integrated Fire & Security Corporation Servicios SA (im Folgenden Tyco), installieren und warten in Spanien Sicherheitsvorrichtungen in Häusern sowie industriellen und gewerblichen Einrichtungen. Die Installation wird maßgeblich durch die Arbeitnehmer von Tyco vor Ort beim Kunden durchgeführt.

Hierzu betrieb Tyco zunächst eine Vielzahl von Regionalbüros, von denen aus die Arbeitnehmer mit dort stationierten Firmenfahrzeugen zu den Kunden fuhren. Ausgangs- und Endpunkt der Tätigkeit war das Regionalbüro. Die Fahrtzeit vom Büro zum Kunden und zurück in das Büro wurde als Arbeitszeit betrachtet. Im Jahr 2011 schloss Tyco sämtliche Regionalbüros und wies die Arbeitnehmer an, fortan von zu Hause aus die Kunden anzufahren. Hierzu wurden ihnen ein Firmenfahrzeug sowie ein Mobiltelefon mit vorinstallierten Anwendungen zum Fahrplanempfang, zur Terminsauflistung sowie zur Einsatzerfassung zur Verfügung gestellt. Die Arbeitnehmer erhielten jeweils am Vortag ihre Route und eine Terminliste für den Folgetag von ihrem Arbeitgeber über das Mobiltelefon. Zusätzlich mussten sich die Arbeitnehmer mehrmals pro Woche in die Büros einer Transportlogistikagentur in der Nähe ihres Wohnorts begeben, um dort die Materialien, Apparate und Ersatzteile abzuholen. Die Distanz zu den Kunden variierte stark und konnte mitunter über 100 Kilometer betragen.

Gegenstand des Rechtsstreits war die Frage, ob die Fahrtzeit eines Arbeitnehmers, der keinem festen Arbeitsort zugewiesen ist, von seinem Wohnort zum Standort eines Kunden und die Rückkehr von einem Standort eines Kunden an den Wohnort des Arbeitnehmers als Ar-beitszeit im Sinne des Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rats vom 04.11.2003 gilt.

Urteil des EuGH

Der EuGH kommt zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Fahrtzeit zu und von einem Kunden um Arbeitszeit handelt. Der Prüfungsumfang des EuGH bezog sich allein auf arbeitsschutzrechtliche Gesichtspunkte. Auf die nationale Gesetzgebung übertragen, ist Gegenstand der Entscheidung also in erster Linie die Frage, ob es sich bei den Fahrtzeiten um Arbeitszeit i.S.d. Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) handelt und nicht etwa die Vergütungspflicht. Der EuGH begründet sein Urteil maßgeblich mit dem Ziel der Richtlinie, die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer besser zu schützen.

Die Richtlinie selbst sehe lediglich eine Beurteilung als Arbeitszeit oder eine Beurteilung als Ruhezeit vor. Eine Zwischenkategorie sei nach der Richtlinie nicht vorgesehen. Arbeitszeit sei nach der Richtlinie jede Zeitspanne, während derer ein Arbeitnehmer gemäß den einzel-staatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder seine Aufgaben wahrnimmt.

Nach Ansicht des EuGH sind die Fahrten der Arbeitnehmer zu den Kunden ein notwendiges Mittel dafür, dass die Arbeitnehmer bei den Kunden technische Leistungen erbringen können. Zudem befänden sich die Arbeitnehmer während der streitgegenständlichen Fahrten in einer Lage, in der sie rechtlich verpflichtet seien, den Anweisungen des Arbeitgebers Folge zu leisten. Zu denken sei etwa an Änderungen oder Streichung der Kundentermine. Mithin hätten die Mitarbeiter nicht die Möglichkeit, während der Fahrten frei über ihre Zeit zu verfügen, so dass sie dem Arbeitgeber zur Verfügung stünden. Letztlich sei bei Arbeitnehmern ohne festen Arbeitsort davon auszugehen, dass die Fahrten untrennbar zum Wesen eines solchen Arbeitnehmers gehörten, so dass der Arbeitsort solcher Arbeitnehmer nicht auf die Orte beschränkt werden könne, an denen sie bei den Kunden ihres Arbeitgebers physisch tätig würden.

Verhältnis zur nationalen Rechtsprechung

Die deutsche Rechtsprechung hat sich bislang nicht ausdrücklich mit der Frage auseinandergesetzt, ob es sich bei Fahrten vom Wohnort zu einem ersten Kunden um Arbeitszeit i.S.d. § 2 ArbZG handelt. Jedoch hat sich das Bundesarbeitsgericht (BAG) 2009 (Urteil vom 22.04.2009 – Az. 5 AZR 292/08) insoweit festgelegt, als die Anfahrtszeit eines Kundendienstmitarbeiters ohne festen Arbeitsort in der Regel vergütungspflichtig ist. Dem Urteil lag ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde. Das BAG begründete dieses Urteil damit, dass die Fahrten zum ersten Kunden und vom letzten Kunden zurück eine Einheit bildeten und insgesamt eine Dienstleistung darstellten. Letztlich gehöre die Fahrtzeit zum ersten und vom letzten Kunden zur Hauptleistungspflicht eines derartigen Arbeitnehmers. Zwar handelt es sich hierbei um eine Entscheidung im Hinblick auf die Vergütungspflicht, die Argumentation wird jedoch auch auf das Arbeitsschutzrecht übertragbar sein.

Auch außerhalb des Arbeitsrechts finden sich diese Grundsätze wieder. Steuerrechtlich beispielsweise findet der Zuschlag (0,03% des Listenpreises pro Entfernungskilometer) für Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte bei Außendienstmitarbeitern ohne festen Arbeitsort keine Anwendung. Dies wird von der Rechtsprechung damit begründet, dass eine Ähnlichkeit zu Dienstreisen bestehe.

Praxisbezug

Für die Praxis hat das Urteil in erster Linie eine klarstellende Funktion. Es bezieht sich ausschließlich auf die Sonderkonstellationen, in denen Arbeitnehmer keinen festen Arbeitsort haben. Eine Übertragung auf die Rechtsprechung zu Wegezeiten bei festen Arbeitsorten ist nicht möglich. Diese bleibt unverändert und zählt weiter weder zur Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes, noch ist diese zu vergüten.

Insbesondere Arbeitgeber mit einem ausgeprägten Außen- oder Kundendienst müssen darauf achten, dass ihre Arbeitnehmer innerhalb der Höchstgrenze von zehn Stunden täglich von „Tür zu Tür“ kommen, möchten sie einen Verstoß gegen das Arbeitszeitgesetz mit der Folge einer Ordnungswidrigkeit oder Strafbarkeit (§ 22 ArbZG) vermeiden. Zu bedenken ist diesbezüglich, dass § 22 ArbZG bereits Fahrlässigkeit genügen lässt und die Arbeitszeit eines Außendienstmitarbeiters häufig von externen Faktoren, wie beispielsweise Verkehr oder Pannen, abhängig ist. Dies wiederum hat erhebliche Auswirkungen auf die Tourenplanung der Arbeitnehmer. Zwar bietet § 14 ArbZG (Außergewöhnliche Fälle) dem Arbeitgeber einen gewissen Schutz gegen externe Faktoren, dieser Schutz wird jedoch regelmäßig dann nicht greifen, wenn dem Arbeitgeber eine fehlerhafte Disposition vorgeworfen werden kann. Dies ist beispielsweise bei einer zu engen Tourenplanung oder bei regelmäßig wiederkehrenden Überziehungen denkbar.

Im Hinblick auf den Vergütungsaspekt stellt das Urteil des EuGH klar, dass dieser nicht unter die geprüfte Richtlinie, sondern unter die einschlägigen Vorschriften des nationalen Rechts fällt.

 

philip.herbst@heussen-law.de

 

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