BAG: Abänderung der dynamischen Bezugnahme im Arbeitsvertrag durch Betriebsvereinbarung
Von Dr. Kathrin Bürger, LL.M., und Martin Biebl
Über die Reichweite von arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln besteht in der Praxis sehr häufig Streit. Arbeitnehmer wollen an der Entwicklung des in Bezug genommenen Tarifwerks (etwa Lohn- und Gehaltstarifvertrag) teilhaben, während Arbeitgeber oft versuchen, sich der dynamischen Bindung an ein oft fremdes Tarifwerk zu entziehen. Besonders deutlich werden diese gegenläufigen Interessen, wenn es um Betriebsübergänge im Sinne des § 613a BGB geht, insbesondere auch bei der Privatisierung staatlicher Betriebe. Das Problem: Die dynamischen Bezugnahmeklauseln verweisen auf fremde Tarifverträge (beispielsweise des öffentlichen Dienstes), an die ein Unternehmen der Privatwirtschaft dann zwar gebunden ist, bei denen es aber keinerlei Einfluss auf die Verhandlungen nehmen kann, weil es nicht Mitglied im Arbeitgeberverband sein will oder ihm bereits die Möglichkeit der Mitgliedschaft im Verband der öffentlichen Arbeitgeber versagt ist. In dieser Situation suchen Unternehmen daher regelmäßig einen Ausweg aus der faktischen Ewigkeitsbindung. Wegen der besonderen Bedeutung der dynamischen Bezugnahmeklauseln muss sich auch das BAG regelmäßig mit deren Reichweite und wirksamer Abänderung beschäftigen. So auch in einer aktuellen Entscheidung aus dem April.
Mit Urteil vom 11.04.2018 (4 AZR 119/17) – bislang nur als Pressemitteilung veröffentlicht – hat das BAG entschieden, dass eine individualvertraglich vereinbarte, sich an einem Tarifvertrag orientierende Vergütung nicht zum Nachteil des Arbeitnehmers durch Betriebsvereinbarung geändert werden kann. Die Argumentation des BAG sowie Folgen und Konsequenzen der Entscheidung sollen in diesem Beitrag erörtert werden.
Ausgangspunkt
Ein seit 1991 beschäftigter Arbeitnehmer in einem kommunalen Pflege- und Seniorenzentrum hatte bei dem Rechtsvorgänger des heutigen Arbeitgebers eine Zusatzvereinbarung zum Arbeitsvertrag abgeschlossen, wonach die ursprünglich vereinbarte Arbeitszeit reduziert sowie der damals anwendbare Bundesangestelltenentgelttarifvertrag (BAT) unter Hinweis auf eine konkrete Vergütungsgruppe in Bezug genommen wurden. Im Folgejahr schloss der damalige Arbeitgeber mit dem Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung, der zufolge die Bestimmungen des Lohn- und Vergütungstarifvertrags (BAT vom 11.01.1961) für alle in den Geltungsbereich der Betriebsvereinbarung fallenden Arbeitnehmer Geltung entfalten sollten. Ebenfalls vereinbart wurde, dass diese Bestimmungen automatisch Bestandteil der Arbeitsverträge der betroffenen Arbeitnehmer werden sollten, sowie, dass diese einen entsprechenden Nachtrag zum Arbeitsvertrag erhalten sollten. Dieser Nachtrag wurde zwischen der Rechtsvorgängerin des Arbeitgebers und dem Arbeitnehmer im März 1993 unterzeichnet.
Der neue Arbeitgeber, der jetzige Beklagte in der Entscheidung des BAG, hatte das Pflege- und Seniorenzentrum im Wege eines Betriebsübergangs gemäß § 613a BGB übernommen. Dieser kündigte im Jahr 2001 die Betriebsvereinbarung. Im März 2006 vereinbarten der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer im Zusammenhang mit einer Arbeitszeiterhöhung, dass das Gehalt der Stelle, die mit 0,78 bewertet wurde, angepasst und erhöht werden sollte. Die weiteren Bestandteile des Arbeitsvertrags sollten nach dem Parteiwillen unverändert anwendbar sein. In dem vorliegenden Rechtsstreit ging es nun maßgeblich um die Frage, ob aufgrund der arbeitsvertraglichen Bezugnahme dem klagenden Arbeitnehmer die Vergütung nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst entsprechend dem TVöD/VKA zustehe oder nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L). Der Arbeitgeber war der Ansicht, dass keine dynamische Bezugnahme auf die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes mehr vorliegen könne.
Argumentation des BAG
Nachdem die Vorinstanzen die Klage abgewiesen hatten, hatte die Revision Erfolg. Nach Ansicht des BAG ist auch der neue Arbeitgeber verpflichtet, den Arbeitnehmer entsprechend der jeweiligen Entgelttabelle des TVöD/VKA zu vergüten. Begründet wurde dies damit, dass der Arbeitnehmer und der Rechtsvorgänger des Arbeitgebers die Vergütung nach den jeweils geltenden Regelungen des BAT und nachfolgenden TVöD/VKA im Arbeitsvertrag vereinbart hatten. Die 1993 abgeschlossene Betriebsvereinbarung kann dem nicht entgegenstehen, denn die vertragliche Vergütungsabrede ist vorliegend eben keine allgemeine Geschäftsbedingung, sondern eine individuell ausgehandelte Hauptleistungspflicht. Es kam auf die durch die Vorinstanz aufgeworfene Frage der grundsätzlichen Betriebsvereinbarungsoffenheit von allgemeinen Geschäftsbedingungen gar nicht an.
Fazit und Praxisfolgen der Entscheidung
Zwar ist die Entscheidung nachvollziehbar, soweit man auf die allgemeinen Grundsätze abstellt. Die durch das BAG selbst aufgestellte Argumentation, dass die Betriebsvereinbarungsoffenheit sich aus der Tatsache ergibt, dass ein Arbeitsvertrag mit Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) gefüllt ist, kann hier aus zwei Gründen keine Anwendung finden. Zum einen ist die Vergütung wohl eines der wenigen individuell ausgehandelten Teile eines Arbeitsvertrags (zumindest kommt es dem wohl am nächsten); zum anderen kann durch die Angemessenheitskontrolle die Vergütung nicht hinreichend überprüft werden, da es sich um eine Hauptleistungspflicht handelt. Der Überprüfung durch AGB sind Hauptleistungspflichten jedoch entzogen. Hätte das BAG daher hier nun anders entschieden, wäre dieser allgemeine Grundsatz außer Kraft gesetzt worden, und sämtliche Hauptleistungspflichten müssten auf Angemessenheit hin geprüft werden. Es ist schließlich gerade nicht Aufgabe der Gerichte, die Angemessenheit einer Vergütungsabrede zu beurteilen (Ausnahme für Sonderregelungen wie beispielsweise § 6 Abs. 5 ArbZG).
Daher muss aufgrund des Vorrangs der Individualabrede und der mangelnden Überprüfbarkeit durch AGB die Betriebsvereinbarungsoffenheit wohl konsequent verneint werden. Mangels argumentierter Betriebsvereinbarungsoffenheit kann dann aber auch nicht die durch das BAG nun in mehreren Entscheidungen propagierte Folge der Abdingbarkeit eintreten.
Wie diese Entscheidung allerdings zu der vielbeachteten Entscheidung des ersten Senats vom 05.03.2013 passt (1 AZR 417/12), mit deren Argumenten die Berufungsinstanz die Klage abgewiesen hatte, kann erst beurteilt werden, wenn die Entscheidungsgründe vorliegen. In dieser Entscheidung hat das BAG zumindest zwischen den Zeilen das Günstigkeitsprinzip (nach diesem gehen günstigere vertragliche Regelungen einer ungünstigeren kollektiven Regelung vor) in bestimmten Konstellationen eliminiert und entschieden, dass, wenn in einem Arbeitsvertrag AGB mit kollektivem Bezug vereinbart werden, diese betriebsvereinbarungsoffen sind, also durch eine Betriebsvereinbarung abgelöst werden können. Es bleibt abzuwarten, ob das BAG, so wie in der Pressemitteilung angedeutet, allein auf das Argument abstellt, dass eine individuell vereinbarte Hauptleistungspflicht nicht durch eine Kollektivvereinbarung abgeändert werden kann. Strenggenommen müsste sich das BAG in diesem Fall mit der Frage der Betriebsvereinbarungsoffenheit nicht befassen, weil sie nicht entscheidungserheblich ist. Im Kontext der Entscheidung des ersten Senats aus dem Jahr 2013 wäre dies aber durchaus wünschenswert. Außerdem scheinen einzelne Senate ohnehin immer eine Vorliebe für das Obiter Dictum zu haben, in dem sie sich zu Sachverhaltsfragen äußern, die an sich nicht entscheidungserheblich wären.
Bereits nach Durchsicht der Pressemitteilung spielt die Entscheidung gerade im Bereich der Privatisierung von Teilen der öffentlichen Hand eine große Rolle. Interessierte Unternehmen müssen im Vorfeld eines geplanten Betriebsübergangs stets den Status quo der Bezugnahmeklauseln genau erfassen und in die Kalkulation des Kaufpreises miteinfließen lassen. Die Gestaltungsmöglichkeiten im Bereich der Vergütungshöhe sind stark eingeschränkt. Der arbeitsrechtlichen Due Diligence kommt daher zukünftig eine noch größere Bedeutung zu.
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