Bereichsausnahmen und Liberalisierung im Arbeitszeitgesetz sind dringend erforderlich

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Ausgangslage

Nach der „Stechuhr“-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 14.05.2019 und der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 13.09.2022 zur Erfassung von Arbeitszeiten liegt nun der Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) vom 18.04.2023 (nachfolgend „Referentenentwurf“) vor. Dieser beschränkt sich auf die Umsetzung vorgenannter Urteile, trägt dabei jedoch dem Bedarf flexibler Arbeitszeiten vieler Berufsgruppen keine Rechnung. Im weiteren Gesetzgebungsverfahren ist daher die Berücksichtigung von Bereichsausnahmen – losgelöst von Tarifverträgen – dringend erforderlich.

Der Bundesverband der Wirtschaftskanzleien in Deutschland (BWD) hält einzig die Befreiung angestellter Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen sowie vergleichbarer Berufsgruppen von den starren Grenzen des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) durch eine Gleichstellung mit leitenden Angestellten entsprechend Art. 17 Abs. 1 Arbeitszeitrichtlinie für sachlich angemessen. Dies kann allerdings nur insoweit gelten, als der angestellte Anwalt seine Arbeitszeit eigenverantwortlich einteilen kann. Ein Indiz hierfür sollte die Überschreitung der Bemessungsgrenzen für die Renten- und Arbeitslosenversicherung sein (derzeit rund 87.000 Euro jährlich in den alten Bundesländern).

Die ebenfalls diskutierte Flexibilisierung über ein sogenanntes Opt-out-Modell (Art. 22 Arbeitszeitrichtlinie) reicht nicht aus, da dies einzig eine Verlängerung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit erlaubt und etwa die Probleme mit der elfstündigen Mindestruhezeit im Zusammenhang mit flexiblen Arbeitszeitmodellen nicht beseitigt. Die politisch möglicherweise wünschenswerte generelle Flexibilisierung des Arbeitszeitrechts müsste auf europäischer Ebene erfolgen, die Arbeitszeitrichtlinie gewährt nur diese beiden Flexibilisierungsmöglichkeiten.

Begründung

Der Referentenentwurf ergänzt das Arbeitszeitgesetz lediglich um eine verpflichtende Aufzeichnungspflicht. Er geht dabei ohne Not weit über die Entscheidung des BAG hinaus, indem die tagesaktuelle und grundsätzlich elektronische Aufzeichnung von Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer verlangt wird. Die vorgesehene Delegation der Aufzeichnung auf Arbeitnehmer oder Dritte ist zu begrüßen, reicht aber nicht zur dringend notwendigen Flexibilisierung der Arbeitszeit aus. Der Anwendungsbereich des Arbeitszeitgesetzes, die tägliche Höchstarbeitszeit, Ruhepausen und -zeiten etc. bleiben damit sehr starr. Das Arbeitszeitrecht passt damit weiterhin nicht zu den in der Praxis etablierten Arbeitsformen.

Es gilt weiterhin nur die Bereichsausnahme der leitenden Angestellten. Dies ist für viele Bereiche der Wirtschaft nicht ausreichend, so auch für die Wirtschaftskanzleien nicht. Eine Lösung mittels der Bereichsausnahme durch Einordnung von Rechtsanwälten als leitende Angestellte gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 1 ArbZG ist für die Berufsgruppe der Anwälte nicht praktikabel, weil die meisten Sozietäten keine Prokura erteilen können, da sie regelmäßig als Gesellschaft bürgerlichen Rechts oder als Partnergesellschaft verfasst sind.

Im Referentenentwurf wird eine mögliche Ausnahme von der Aufzeichnungspflicht für Arbeitnehmer, deren gesamte Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann (wie zum Beispiel von Führungskräften, herausgehobenen Experten oder Wissenschaftlern), lediglich im Wege einer Tariföffnungsklausel umgesetzt. Außerhalb einer Tarifbindung wird für die Ausnahme vorgenannter Arbeitnehmergruppen keine Möglichkeit geschaffen. Für die Anwaltschaft und verwandte Branchen ist dies kein praktikabler Weg.

Allerdings ist die Notwendigkeit der Flexibilisierung des Arbeitszeitrechts für freie Berufe und insbesondere für angestellte Rechtsanwälte seit vielen Jahren erkannt. Dies fand ja auch seinen Niederschlag im Koalitionsvertrag.

In nur wenigen Branchen treten Zielkonflikte zwischen den Schutzvorschriften des Arbeitszeitgesetzes und den beruflichen Pflichten so deutlich zutage wie bei Rechtsanwälten: Soll der Rechtsanwalt die Tarifvertragsverhandlungen, die Gerichtsverhandlung abbrechen, Fristen missachten oder im Eilrechtsschutz nicht ausreichend reagieren können, bei der Durchsuchung der Geschäftsräume seines Mandanten einfach gehen, die internationale Transaktion abbrechen, weil er etwa die höchstzulässige Arbeitszeit von zehn Stunden überschritten hat, eine Pause machen muss und in Schwierigkeiten mit der Ruhezeit gerät, da er am Abend zuvor eine E-Mail an den Mandanten geschrieben hat, den er am nächsten Morgen vor Gericht vertritt? In der Praxis wird dies kein Mandant verstehen, unter Umständen droht sogar die Haftung wegen Verstoßes gegen berufliche Pflichten.

Der manchmal diskutierte Weg des „Notfalls“ oder des „außergewöhnlichen Falls“ nach § 14 ArbZG hilft nicht im Hinblick auf eine generelle Lösung des Problems der branchenweiten Notwendigkeit der freien und flexiblen Arbeitszeit.

Dem bedeutenden Zweck des Gesundheitsschutzes kann ferner unter Berücksichtigung berufsspezifischer Erfordernisse und moderner flexibler Arbeitsformen – zum Beispiel zumindest durch Flexibilisierung mittels reiner wöchentlicher Höchstarbeitszeit – europarechtskonform Rechnung getragen werden. Weder das bestehende Arbeitszeitgesetz noch der Referentenentwurf lassen Spielraum für eine Einzelfallbetrachtung oder berücksichtigen Unterschiede der Berufsgruppen. Berufsspezifische Erfordernisse muss der Gesetzgeber aber bei einer Reform des Arbeitszeitgesetzes zumindest unter ganzheitlicher Ausschöpfung des Art. 17 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie – insbesondere für weniger schutzwürdige Berufsgruppen mit berufsrechtlichen Pflichten und weitgehend eingeräumter Eigenverantwortung wie etwa Rechtsanwälte – berücksichtigen. Angestellte Anwälte, denen das Recht eingeräumt wird, ihre Arbeitszeit frei zu gestalten, sollten europarechtskonform vom Geltungsbereich des Arbeitszeitgesetzes ausgenommen werden, wie dies andere Mitgliedstaaten der EU schon getan haben und wie es bereits für Wirtschaftsprüfer und für Chefärzte vorgesehen worden ist.

 

Forderung des BWD

Der BWD fordert den Gesetzgeber daher auf, im weiteren Gesetzgebungsverfahren eine Bereichsausnahme für alle freien Berufe zu ermöglichen, deren angestellte Berufsträger ihre Arbeitszeit im Wesentlichen frei bestimmen können. Dies soll im Zweifel vermutet werden, wenn der Berufsträger mehr verdient, als die jeweilige Beitragsbemessungsgrenze zur Rentenversicherung oder zur Arbeitslosenversicherung festlegt.

Diese Forderung ist im europäischen Vergleich auch durchaus üblich, ähnliche Regelungen existieren bereits beispielsweise in Frankreich und in den Niederlanden.

 

c.kleinmann@gvw.com

kathrin.reitner@de.gt.com

christoph.kurzboeck@roedl.com

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Hinweis der Redaktion:
Christof Kleinmann, Kathrin Reitner und Dr. Christoph Kurzböck engagieren sich in der BWD-Task-Force „Arbeitszeitgesetz“. (tw)

 

Über den BWD

Der Bundesverband der Wirtschaftskanzleien in Deutschland (BWD; siehe hier) wurde am 29.03.2022 gegründet. Über 40 größere Wirtschaftskanzleien haben sich mittlerweile zusammengeschlossen, um sich gemeinsam für die fachlichen, strategischen und zukunftsorientierten Themen dieses wichtigen Segments des Rechtsmarkts in Deutschland einzusetzen. Die Mitglieder des BWD beschäftigen 24.000 Mitarbeitende, darunter über 5.600 Anwältinnen und Anwälte. Zusammen erzielen sie Umsatzerlöse von mehr als 2,5 Milliarden Euro pro Jahr. Ein Advisory Board, dem führende Unternehmensjuristen angehören, sowie ein hochkarätig besetztes Scientific Board unterstützen den Bundesverband aktiv. Es wurden kurz- und längerfristige Projekte und Themen definiert, die in Task Forces und im gemeinsamen Austausch zwischen den Mitgliedskanzleien bearbeitet werden.

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