Die Coronapandemie hat das Leben aller auf den Kopf gestellt und prägt nach wie vor auch den beruflichen Alltag. So können viele Arbeitnehmer ihrer Beschäftigung zum Teil überhaupt nicht mehr nachgehen, andere arbeiten – ob gewollt oder nicht – nur noch von zu Hause aus. Insgesamt sollen Kontakte, soweit es geht, reduziert werden. Dies stellt auch den Gesetzgeber vor neue Herausforderungen, da viele gesetzliche Regelungen persönliche Anwesenheit vorsehen. So mussten diese Regelungen an die neue Situation angepasst und die Möglichkeit digitaler Zusammenkünfte geschaffen werden. Das tägliche Leben hat sich seit Ausbruch von Covid-19 immer mehr auf die digitale Ebene verlagert. Inzwischen finden nicht nur Besprechungen, sondern auch Seminare, Tagungen, Messen, Unterricht oder gar Weihnachtsfeiern online statt. Insofern überrascht es nicht, dass auch dort, wo das Ansteckungsrisiko besonders hoch ist, nämlich in Arztpraxen – zumindest vorübergehend – die Möglichkeiten der digitalen Fernbehandlung erweitert wurden. Frei nach dem Motto „Ein Anruf genügt“ durften bereits im Frühjahr dieses Jahres, zeitlich befristet, Arbeitsunfähigkeiten allein nach telefonisch durchgeführter Anamnese attestiert werden. Seit dem Ausbruch der zweiten Coronawelle im Herbst letzten Jahres besteht diese Möglichkeit – derzeit bis zum 31.03.2021 befristet – erneut. Dabei handelt es sich jedoch um zeitlich befristete Ausnahmen vor dem Hintergrund der Coronapandemie. Durch eine Änderung der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-RL) und neue Gesetzesvorhaben könnten diese Ausnahmen aber bald zur Regel werden.
Pandemieunabhängige Änderung der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie
Während die Möglichkeit der Krankschreibung per Telefon viel mediale Aufmerksamkeit bekam, rückte in den Hintergrund, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) von Spitzenvertretern der Ärzte, Krankenkassen und Krankenhäuser im Juli letzten Jahres völlig unabhängig von der Pandemie die AU-RL geändert und auch die mittelbar persönliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit im Rahmen von Videosprechstunden ermöglicht hat. Diese Änderung ist bereits zum 07.10.2020 in Kraft getreten. Anlass für die Richtlinienänderung war die berufsrechtliche Lockerung des Verbots der ausschließlichen Fernbehandlung in der Musterberufsordnung für Ärzte (MBO). Voraussetzung ist bislang allerdings, dass die oder der Versicherte in der Arztpraxis aufgrund früherer Behandlung unmittelbar persönlich bekannt ist und die Erkrankung dies nicht ausschließt. Als Erkrankungen, bei denen eine Erstfeststellung einer Arbeitsunfähigkeit im Rahmen einer Videosprechstunde in Betracht kommen könnte, nennt der G-BA unter anderem Erkältungen, Magen-Darm-Infekte oder Migräne. Eine abschließende Festlegung gibt es jedoch nicht. Eine erstmalige Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ist per Videosprechstunde aber nur für einen Zeitraum von bis zu sieben Kalendertagen möglich. Die Feststellung des Fortbestehens der Arbeitsunfähigkeit ist nur zulässig, wenn zuvor aufgrund einer persönlichen Untersuchung durch die Ärztin oder den Arzt die Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit festgestellt worden ist. Ein Anspruch hierauf besteht jedoch nicht.
Bundesgesundheitsministerium (BGM) plant weitere Lockerung
Dem Bundesgesundheitsminister geht diese Lockerung jedoch noch nicht weit genug, weshalb im Rahmen des Gesetzentwurfs zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege nun auch die Möglichkeit geschaffen werden soll, die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit einschließlich der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit im Rahmen der ausschließlichen Fernbehandlung in geeigneten Fällen ohne vorherige Präsenzbehandlung vorzunehmen. Dies wurde durch das BGM bereits im Rahmen der Änderung der AU-RL im Juli angeregt. Demnach könnte eine Arbeitsunfähigkeit im Wege der ärztlichen Fernbehandlung auch bei Patientinnen und Patienten festgestellt werden, die bislang noch nie in der jeweiligen Arztpraxis behandelt wurden. Bei einfach gelagerten Erkrankungsfällen sollen dadurch Infektionen über Wartezimmer vermieden werden.
Gefahr der Beeinträchtigung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und Zunahme von Krankmeldungen?
Trotz der Vorteile, wie Entlastung der Arztpraxen, Verringerung von Ansteckungsrisiken und Vereinfachung der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit, die durch digitale Untersuchungen bestehen, dürfen jedoch die arbeitsrechtlichen Probleme nicht außer Acht gelassen werden. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen besitzen einen hohen Beweiswert. An das Vorliegen und die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit knüpfen der Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und der Anspruch auf Krankengeld an. Sie dienen ferner dazu, die Arbeitsunfähigkeit gegenüber dem Arbeitgeber nachzuweisen, und auch Gerichte messen ihr aufgrund der bislang persönlich erfolgten Untersuchung durch eine Ärztin oder einen Arzt einen hohen Beweiswert zu. Dieser Beweiswert könnte beeinträchtigt werden, wenn vor der Ausstellung der Bescheinigung keine persönliche Untersuchung der Arbeitnehmer mehr erfolgt, da dadurch auch missbräuchliche Krankmeldungen vereinfacht werden könnten. Nach Auswertung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK gab es zum Beispiel zu Beginn der Pandemie im März und April 2020 – nachdem die Möglichkeit der Feststellung der telefonischen Arbeitsunfähigkeit erstmals geschaffen wurde – einen deutlichen Anstieg der Krankmeldungen im Vergleich zum Vorjahr. Der höchste Krankenstand wurde im März mit 7,8 Prozent erreicht.
Kann einer lediglich aufgrund einer mittelbaren Untersuchung per Videosprechstunde ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung daher derselbe Beweiswert zukommen wie einer Bescheinigung, die nach einer unmittelbar durchgeführten Untersuchung ausgestellt wird? Dies hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) im Jahr 1976 (Urteil v. 11.08.1976 – 5 AZR 422/75) verneint, als ein Arzt einem Arbeitnehmer eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt hatte, ohne diesen hinsichtlich einer erneuten Arbeitsunfähigkeit noch einmal zu untersuchen. In einem solchen Fall ist der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach Auffassung des BAG beeinträchtigt. Die Bescheinigung allein könne die Arbeitsunfähigkeit nicht nachweisen. Stattdessen müsse der Arbeitnehmer diese mit anderen Beweismitteln belegen. Auch nach der derzeit gültigen AU-RL sind bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit körperlicher, geistiger und seelischer Gesundheitszustand gleichermaßen zu berücksichtigen. Insbesondere die Beurteilung des körperlichen Gesundheitszustands wird bei der Beurteilung per Videosprechstunde aber deutlich erschwert. Bestimmte Untersuchungsmöglichkeiten, wie etwa das Abtasten oder Abhören sind bei einer solchen Untersuchung gar nicht möglich. Auch technische Faktoren, wie Bildqualität und Lichtverhältnisse, können die Untersuchung erschweren. Dies führt dazu, dass die Ärztin oder der Arzt die Aussagen der oder des Versicherten zur Erkrankung nicht in jedem Einzelfall vollumfänglich überprüfen kann. Aufgrund dieser Umstände ist es fraglich, ob die Rechtsprechung in Zukunft einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auf Grundlage einer Videountersuchung einen ebenso hohen Beweiswert beimessen wird wie einer aufgrund der Feststellung im Rahmen einer persönlichen Vorsprache. Durch die Änderung der AU-RL und die ausdrückliche Zulassung dieser Form der Fernbehandlung muss aber wohl davon ausgegangen werden. Eine andere Sichtweise würde zu einer erheblichen Verunsicherung führen, da künftig beide Untersuchungsmöglichkeiten bei leichten Erkrankungen bestehen werden. So wird es für Arbeitgeber ohne das Vorliegen weiterer Umstände nach wie vor schwierig sein, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, zumal derzeit nach der AU-RL keine besondere Kennzeichnung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die aufgrund einer Videosprechstunde ausgestellt wurden, vorgesehen ist. Es wird daher noch zu klären sein, ob Arbeitgeber das Recht haben, darüber Auskunft zu verlangen. Hierfür spricht, dass andernfalls auch nicht geprüft werden kann, ob die Krankheit überhaupt für eine Untersuchung per Video geeignet war.
Ein Ausblick
Die hauptamtlichen unparteiischen Mitglieder des G-BA sehen den Gesetzentwurf insofern kritisch, als die oder der Patient der Praxis, die die Arbeitsunfähigkeit bescheinigt, nicht durch vorherige Untersuchungen persönlich bekannt sein muss, und haben sich in einer Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf gegen diese Änderung ausgesprochen. Es bleibt daher abzuwarten, ob der Gesetzentwurf in dieser Form überhaupt verabschiedet wird. Das Gesetzgebungsverfahren steht noch am Anfang. Im Hinblick darauf, dass durch die Änderung der AU-RL in bestimmten Fällen bereits die Möglichkeit besteht, die Arbeitsunfähigkeit per Videosprechstunde feststellen zu lassen, und darauf, dass die vergangenen Monate gezeigt haben, dass in Notfällen auch kurzfristig abweichende Regelungen geschaffen werden können, erscheint der Mehrwert der nun vorgeschlagenen Änderung zudem fraglich.