Das BAG stärkt mit der Bestätigung seiner Rechtsprechung zum frühestmöglichen Eingreifen des besonderen Kündigungsschutzes schwangerer Arbeitnehmerinnen die Rechte und den Schutz werdender Mütter.
Der Fall
Ausgangspunkt der Entscheidung des BAG war ein Fall aus dem Jahr 2020. Die Parteien stritten über den unverzüglichen Zugang der Mitteilung über das Bestehen einer Schwangerschaft sowie über das Eingreifen des besonderen Kündigungsschutzes nach § 17 MuSchG. Das Arbeitsverhältnis begann am 15.10.2020. Mit Schreiben vom 06.11.2020, zugegangen am Folgetag, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis. Die Klägerin wendete sich mit Kündigungsschutzklage vom 12.11.2020 gegen diese Kündigung und teilte mit anwaltlichem Schreiben an das Arbeitsgericht vom 02.12.2020 mit, bereits in der sechsten Woche schwanger zu sein. Hierzu legte sie eine ärztliche Bescheinigung vom 26.11.2020 vor, aus der sich als voraussichtlicher Geburtstermin der 05.08.2021 ergab.
Das Urteil
Mit Urteil vom 24.11.2022 (Az. 2 AZR 11/22) bestätigt das BAG, an seiner ständigen Rechtsprechung zur Bestimmung des Zeitpunkts des Beginns der Schwangerschaft festzuhalten. Der Senat legt die angewendete Berechnungsmethode zur Rückrechnung von 280 Tagen ab prognostiziertem Entbindungstermin dar und begründet diese mit dem verfassungsrechtlichen Schutzauftrag sowie den unionsrechtlichen Vorgaben.
Schwangere genießen frühestmöglich den Schutz nach § 17 MuSchG
Der Begriff der Schwangerschaft, und damit der Beginn des Eingreifens des besonderen Kündigungsschutzes, wird weder in der Mutterschutzrichtlinie (Richtlinie 92/85/EWG) noch im deutschen Mutterschutzgesetz (MuSchG) näher definiert. Grundlage zur Berechnung der vorgeburtlichen Mutterschutzfrist ist jedoch der im ärztlichen Zeugnis bestimmte voraussichtliche Entbindungstermin. Dieser bleibt maßgeblich, wenn der tatsächliche Entbindungstermin von dem vorausberechneten Termin abweicht (§ 3 Abs. 1 Satz 3 und Satz 4 MuSchG). Dem folgend berechnet das BAG den Beginn des Kündigungsverbotes nach § 17 Abs. 1 Satz 1 MuSchG ebenfalls ausgehend von dem im ärztlichen Zeugnis prognostizierten Tag der Entbindung, indem durch Rückrechnung um 280 Tage der Beginn der Schwangerschaft bestimmt wird. Die Rückrechnung um 280 Tage basiert dabei auf der durchschnittlichen Dauer eines Menstruationszyklus von je 28 Tagen (ein Lunarmonat) und gibt somit die mittlere Schwangerschaftsdauer von zehn Lunarmonaten wieder. Zwar werden damit auch Menstruationstage einbezogen, an denen das Vorliegen einer Schwangerschaft unwahrscheinlich ist. Das BAG betont jedoch, dass es bei der Anwendung der Berechnungsmethode um die Bestimmung des Beginns der Schwangerschaft zur Ermittlung des Eingreifens des Kündigungsschutzverbots gehe und nicht um eine naturwissenschaftliche Bestimmung des konkreten Schwangerschaftsbeginns.
Die Berechnungsmethode des BAG steht im Einklang mit den Vorgaben des europäischen Rechts. Die Mutterschutzrichtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten Maßnahmen zum Verbot einer Kündigung während der Zeit vom Beginn der Schwangerschaft bis zum Ende des Mutterschaftsurlaubs treffen. Ziel des Kündigungsverbots ist nach der Rechtsprechung des EuGH, schädliche physische und psychische Auswirkungen auf die Verfassung der Schwangeren zu verhindern, die sich daraus ergeben, dass sich die Schwangere der Gefahr einer Kündigung aus solchen Gründen ausgesetzt sieht, die mit ihrem Zustand in der Schwangerschaft in Verbindung stehen. Dieses Ziel lässt sich jedoch nur dann erreichen, wenn vom frühestmöglichen Zeitpunkt des Vorliegens einer Schwangerschaft ausgegangen wird.
Kein Anscheinsbeweis der Schwangerschaft
Schließlich stellt das BAG klar, dass die Berechnung des Beginns des Kündigungsverbots nicht unter Heranziehung eines Anscheinsbeweises zugunsten der Arbeitnehmerin erfolgt. Vielmehr hat die Arbeitnehmerin die Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen der Schwangerschaft sowie den prognostizierten Entbindungstermin zu tragen. Dieser werde regelmäßig durch eine ärztliche Bescheinigung erbracht, deren Beweiswert seitens des Arbeitgebers erschüttert werden kann.
Im zu entscheidenden Fall verstieß die am 07.11.2020 zugegangene Kündigung gegen das Kündigungsverbot des § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 MuSchG, da die Klägerin nach der Rückrechnung bereits am 29.10.2020 schwanger war. Ob aus diesem Verstoß jedoch auch die Unwirksamkeit der Kündigung resultiert, konnte der Senat nicht entscheiden. Der Rechtsstreit wurde zur weiteren Feststellung zurückverwiesen.
Keine Zurechnung des Verschuldens des Prozessbevollmächtigten
Sollte sich bestätigen, dass die Klägerin tatsächlich erst am 26.11.2020 Kenntnis von der Schwangerschaft erlangte, wäre die Mitteilung über das Bestehen der Schwangerschaft mit anwaltlichem Schreiben vom 02.12.2020 nach Auffassung des BAG noch unverzüglich im Sinne des § 17 Abs. 1 Satz 2 MuSchG. Die Arbeitnehmerin hat dem Arbeitgeber spätestens innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Kündigung das Bestehen der Schwangerschaft mitzuteilen (§ 17 Abs. 1 Satz 1 MuSchG). Eine Mitteilung nach Ablauf dieser Frist ist unschädlich, wenn die Arbeitnehmerin keine Kenntnis von der Schwangerschaft hatte und keine zwingenden Anhaltspunkte das Vorliegen einer Schwangerschaft praktisch unabweisbar machen. In diesem Fall hat die Arbeitnehmerin gegenüber dem Arbeitgeber unverzüglich die Anzeige der Schwangerschaft nachzuholen. Dies war bei Kenntnis von der Schwangerschaft am 26.11.2020 der Fall. Die Kenntniserlangung des Arbeitgebers innerhalb einer angemessenen Frist ist nach der Entscheidung des BAG auch dann gewährleistet, wenn die Sachbearbeitung der eingehenden Schriftsätze durch das Arbeitsgericht den gesetzlichen Vorgaben entspricht. Das BAG stellt zudem klar, dass der Arbeitnehmerin nur solche Übermittlungshindernisse zugerechnet werden können, an denen ihr ein Verschulden vorzuwerfen ist.
Ein allgemeines Risiko des rechtzeitigen Zugangs der Schwangerschaftsmitteilung trägt die Arbeitnehmerin hingegen nicht. Ein Verlust des besonderen Kündigungsschutzes einer werdenden Mutter wegen unverschuldeter Verspätungen trotz unverzüglichen Nachholens der Mitteilung verstößt gegen den verfassungsrechtlichen Auftrag aus Artikel 6 Abs. 4 GG. Die Arbeitnehmerin hat sich auch nicht das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten bei der Übermittlung der Schwangerschaftsmitteilung zurechnen zu lassen. Entscheidend ist demnach, dass die Arbeitnehmerin ihren Prozessbevollmächtigten unverzüglich über die Schwangerschaft informiert hat. Das BAG lässt insoweit den Zeitraum von sechs Tagen zwischen Kenntnis von der Schwangerschaft und der Mitteilung der Schwangerschaft an den Prozessbevollmächtigten genügen.
Bedeutung für die Praxis: Auflösung des Streits über den Beginn der Schwangerschaft i.S.d. § 17 MuSchG
Das Urteil des BAG schafft zunächst Klarheit hinsichtlich der Berechnungsmethode zur Bestimmung des Beginns der Schwangerschaft im Sinne des § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 MuSchG. Der Senat setzt sich in seiner Entscheidung mit der von Seiten der Literatur geübten Kritik auseinander. Dabei betont er die Unterscheidung zwischen dem Merkmal der Schwangerschaft als materiell-rechtlicher Voraussetzung des Anspruchs auf besonderen Kündigungsschutz und der Frage der Beweislastverteilung.
Der vom BAG, in Ermangelung einer klaren gesetzlichen oder unionsrechtlichen Begriffsbestimmung der Schwangerschaft, angewendeten Berechnungsmethode zur Bestimmung des frühestmöglichen Beginns der Schwangerschaft ist dabei zuzustimmen. Sowohl in der europäischen Mutterschutzrichtlinie als auch in den Regelungen des Mutterschutzgesetzes spiegelt sich der gesetzgeberische Wille wider, Mütter – vor dem Hintergrund des ihnen zukommenden besonderen verfassungsrechtlich verankerten Schutzes – bereits während der Schwangerschaft vor dem Verlust des Arbeitsschutzes und vor den bereits mit einem drohenden Verlust des Arbeitsplatzes einhergehenden Folgen für Mutter und Kind zu schützen. Diesem gesetzgeberischen Willen kann die Rechtsprechung nur entsprechen, wenn der Begriff der Schwangerschaft weit verstanden wird und im Sinne dieses Schutzes der frühestmögliche Schwangerschaftszeitpunkt zugrunde gelegt wird. Andernfalls würde Arbeitnehmerinnen, die trotz der bestehenden geringeren Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft zu einem frühen Zeitpunkt des ersten Lunarmonats tatsächlich bereits schwanger sind, der gesetzlich vorgesehene und verfassungsrechtlich verankerte besondere Kündigungsschutz per se entzogen.
Zuzustimmen ist dem BAG auch insoweit, als die Arbeitnehmerin – unter Heranziehung der festgelegten Methode zur Bestimmung des Beginns der Schwangerschaft – für das Bestehen der Schwangerschaft im Zeitpunkt der Kündigung darlegungs- und beweisbelastet ist. Der zutreffende Verweis des Arbeitgebers auf die Möglichkeit zur Erschütterung des ärztlichen Zeugnisses bleibt mit Blick auf die hohen Hürden zur Erschütterung des Beweiswerts dennoch ernüchternd.
Anwaltliche Beratung – Vermeidung von Haftungsfällen
Zur Nachweisbarkeit der Unverzüglichkeit der Mitteilung der Schwangerschaft gegenüber dem Arbeitgeber und zur Vermeidung von Haftungsfällen wird in der anwaltlichen Beratung künftig neben der Abfrage des Bestehens einer Schwangerschaft auch zu dokumentieren sein, seit wann die Arbeitnehmerin Kenntnis von ihrer Schwangerschaft hat, ob vorher Anhaltspunkte bestanden, die zwingend auf eine Schwangerschaft schließen ließen, und wann die Mitteilung der Schwangerschaft gegenüber dem Prozessbevollmächtigten erfolgt ist.
Aus anwaltlicher Vorsicht sollte zudem das Bestehen der Schwangerschaft künftig dem Arbeitsgericht und dem Arbeitgeber parallel mitgeteilt werden, da eine zügige Sachbehandlung eingehender Schriftsätze durch die Arbeitsgerichte in Zeiten des Fachkräftemangels nicht immer gewährleistet sein wird. Nur so kann die Einhaltung der Unverzüglichkeit des § 17 Abs. 1 Satz 2 MuSchG sichergestellt werden.
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